Heiliger Bimbam

Wer von uns kann schon beurteilen, was in den arabischen Ländern zurzeit wirklich vorgeht? Erstaunlich viele, so scheint es. In den Kommentarspalten der Gratiszeitungen melden sich jedenfalls haufenweise ExpertInnen, die mit Hohn und Spott quittieren, was die libysche Übergangsregierung angekündigt hat: Dass in Libyen ein Rechtsstaat auf den Grundlagen der islamischen Scharia konstituiert werden soll. Ein Aufschrei hallt durch die Sphären des westlichen Internets: Die Scharia! Das ist doch keine Demokratie!! Diese Feststellung zwar scheint auch mir als Nichtexpertin zutreffend. Aber was haben wir hierüben von der libyschen Revolution eigentlich erwartet? Es wird kaum möglich sein, in einem Land, das nicht die geringsten politischen Strukturen besitzt, den Hebel in Nullkommanichts von Diktatur auf Demokratie umzulegen. Der Alltag im privaten und öffentlichen Leben ist nun mal offenbar vom Islam und vom Stammeswesen geprägt. Nur weil beides nicht unserer Weltanschauung entspricht, sollten wir den immensen Erfolg der Rebellen nicht kleinreden. Immerhin haben sie den mächtigen Despoten verjagt. Den Willen, die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, hat dieses Volk (Demos) damit tatkräftig bewiesen. Und ganz bestimmt findet die Scharia in der Bevölkerung mehr Zustimmung als jenes obskure grüne Buch. Damit sei nicht verschwiegen, dass von da bis zur Demokratie mit gleichen Mitbestimmungsrechten für alle, z. B. auch für Andersgläubige und Frauen, noch ein Stück Weg zurückzulegen wäre.

Stammesstrukturen halten sich jedoch hartnäckig. Und bevor man mit dem Finger auf die Rückständigen in aller Welt zeigt, sollte man vielleicht vor der eigenen Tür kehren. Nicht Europa, nicht die Schweiz – «die beste Demokratie der Welt» – und darin nicht einmal so weltoffene Städte wie Zürich sind frei davon. Oder was anderes als überkommene Stammesstrukturen mit archaischen, von urtümlichen Gesetzen geprägten Sitten und Ritualen sollten wohl all die männerbündlerischen Verbindungen darstellen, wie etwa die Offiziersgesellschaft, die politischen Lobbys und die Teppichetagen im Allgemeinen – oder gar die Uefa? Die Zünfte??

Heiliger Bimbam! Das Sechseläuten und diese Zünfter … Laden die Frauenzunft einfach wieder aus, weil sie nicht der Tradition entspreche. Wieso nicht gleich statt dem Böögg eine Hexe verbrennen, das war auch mal Tradition. Im Gegensatz zu Corine Mauch finde ich diesen Entscheid der Zünfte gar nicht demokratisch, sondern diskriminierend, denn Frauen durften ja nicht mitreden. Stellen wir uns vor: Am Knabenschiessen wären grundsätzlich keine schwarzen Bahnbetreiber zugelassen; vom Caliente wären Homosexuelle explizit ausgeschlossen; die Streetparade würde Juden auf Love-Mobiles verbieten. Auf solche Traditionen kann die Welt verzichten.

 

Ich überlege grade, was geschehen würde, wenn eine Gruppe von Gleichberechtigungs-Anhängerinnen am nächsten Sechseläuten auf harmlose Art und Weise ihr Anliegen zum Ausdruck brächte und – sagen wir mal – einige Stammesälteste der Zünfte mit violetten Konfettis einschneite. Ob dies vom hiesigen, gar so fortschrittlich gesinnten Volk wohl als berechtigter Ausdruck demokratisch legitimierter Mitsprache anerkannt würde?