Herbstwanderung

Nach der Begegnung mit der handywandernden Familie (s. meine letzte Kolumne) setzten wir unseren Weg südwärts fort. Das Ziel: Kastanien sammeln auf dem Abstieg von Soglio nach Castasegna, dem letzten Schweizer Dorf im Bergell, an der Grenze zu Italien. Je tiefer ins Tal hinab und je südlicher der Pfad sich wand, desto grösser und reifer fielen die Früchte von den Bäumen. Vieles, was wir oben nach mühseligem Klauben aus stachelbewehrten Hüllen mit Begeisterung in unseren Plastiksack gesteckt hatten, sonderten wir unten wieder aus. So imposante Exemplare, wie sie im professionellen Anbau geerntet und im Dorfladen von Castasegna verkauft werden, habe ich allerdings meiner Lebtag noch nie gesehen. Warum die einen wohl Castagne heissen und acht Franken das Kilo kosten, während daneben Marroni zu neun Franken angeboten werden?

Ausser Kastanienbäumen und Schafweiden gibt es hier kaum Landwirtschaft. Die Menschen arbeiten in der Stromproduktion (des Albigna-Stausees), am nahen Grenzposten oder im Tourismus und teilen sich diese Arbeitsplätze mit italienischen Grenzgängern und portugiesischen Saisonniers. Im Hotel Post, bei einem kalten Plättli mit lokalen Spezialitäten, erzählte uns die Wirtin die Geschichte der Umfahrungsstrasse von Castasegna. Früher wälzte sich die ganze Blechkarawane mit den Autos von TouristInnen, PendlerInnen, einheimischen Berufstätigen und öffentlichem Verkehr mitten durchs Dorf – auf einer Strasse, die den Eindruck macht, als bräuchte man nur beide Arme auszustrecken, um die Hauswände links und rechts zu berühren.

Während Jahrzehnten konnten die Einheimischen die der Strasse zugewandten Fassaden ihrer Häuser nicht renovieren, obwohl sie am Zerfallen waren. Denn für ein Baugerüst wäre schlicht kein Platz gewesen, da der Verkehr nirgendwohin ausweichen konnte. So freute man sich auf die neue Umfahrungsstrasse, nach deren Eröffnung vor zwei Jahren das Dorf die lange ersehnte Erneuerung rund um seine Hauptstrasse an die Hand nahm. Im Hotel Post liegt jetzt eine Dokumentation in Vorher-Nachher-Machart auf, die auf viele Details der historischen Baukunst hinweist. Liebevoll restauriert schmücken sie heute die Häuser, und man kann sie ohne Verkehrsstress besichtigen. «Die Lebensqualität ist enorm gestiegen, das schon …», sagt die Wirtin. «Aber das Auskommen ist schwieriger geworden. Früher hielten die Leute, die hier durchfuhren, auch an und konsumierten im Dorf. Wer heute auf der Umfahrungsstrasse durchs Tal fährt, hat keinen Grund mehr, zu uns abzuzweigen!» Seither mussten mehrere Läden und Cafés schliessen, wegen der schmalen wirtschaftlichen Basis stagniert auch die Bevölkerungszahl, und die wenigen verbliebenen PrimarschülerInnen müssen neuerdings im Nachbardorf zur Schule.

Fast schämten wir uns, dass wir die Kastanien im Wald aufgelesen, und nicht im Laden gekauft hatten. Das holen wir nächstes Mal nach – und dann fragen wir auch, ob es einen Einheimischen-Trick gibt, um die köstlichen Früchte von ihrer pelzigen Innenhaut zu befreien …