Doch, doch: Ich lerne gern. Seit ich aus der Schule gekommen bin, ist bestimmt kein Jahr vergangen, in dem ich nicht etwas Neues angepackt hätte: ein angefangenes Geschichtsstudium, das Proficiency, ein Studium als Sprachlehrerin, eine Zusatzausbildung für Werken und Zeichnen, das Videofilmen, die autodidaktische Fotografie-Ausbildung, Kurse an der Kunstschule, ein Teilstudium in Publizistik und Filmwissenschaft, den gestalterischen Vorkurs für Erwachsene, Schnittmusterzeichnen, Schweissen, Metallgiessen, Goldschmieden, Mähen mit der Sense, Ziegenhaltung, Autoprüfung, Skifahren (beides mit über 40!), Achtsamkeitsmeditation, Bäumeschneiden, Messermachen, Scherenschleifen, Tomatenziehen, Pilzkontrolle… Ich war «Serviertochter», Kassierin an der Tankstelle, «Filmsatztasterin», viersprachige Sekretärin, Sprachlehrerin, Journalistin, Korrektorin, Assistentin im Filmverleih, Erwachsenenbildnerin, Hortleiterin, Vorgesetzte, Werk- und Zeichenlehrerin, Übersetzerin usw. usf. Und in dieser Art soll es von mir aus noch eine Weile weitergehen.
Trotz meiner enormen Bildungsbereitschaft ist unschwer zu erkennen, dass mein Lernweg, wie er so in die Breite mäandriert, zu keiner gradlinigen Karriere befähigt. Mehr als die Hälfte meiner Vita muss ich verschweigen, wenn ich bei Stellenbewerbungen nicht als Hansdampf-in-allen-Gassen dastehen will. Ausserdem ist mir so einiges missraten, das führte mich auf weitere Umwege: Beim Jazztanz habe ich zwei linke Füsse; ein Velo habe ich zwar zersägt, aber nicht wieder neu zusammengebaut; Elektrizität bleibt ein Buch mit sieben Siegeln für mich; der Newsjournalismus war mir zu stressig etc. Der grösste Karrierekiller ist jedoch, dass ich zu viele Lernprozesse in einem Privatleben absolvierte, das nicht so recht ein Muster der Zielstrebigkeit abgeben will: Ich war halt krank und musste lernen, damit fertigzuwerden; ein Todesfall stürzte mich in eine Depression, und ich musste lernen, mit der Trauer zu leben; meine Familie ist ein Flickwerk, und ich musste lernen, das zu akzeptieren; ich kriegte ein Kind, es wurde gemobbt, hatte ADS, und ich musste lernen, für es einzustehen. Dann musste ich einsehen, dass ich nicht mehr in der Stadt leben konnte, und zog in die Pampa. Schliesslich hatte ich ein paar Unfälle und musste lernen, mit Abhängigkeit umzugehen. Und mit alldem bin ich auch nicht jünger geworden. Alles durchaus unnötig, aber leider unvermeidlich.
Da uns das Leben viele Lektionen ungefragt erteilt, scheint mir das heute allgegenwärtige Credo des «lebenslangen Lernens» mit seinen Glücksverheissungen recht fragwürdig. Ich schliesse mich dem Bildungsforscher Erich Ribolits an, der feststellt, es gelte heute, «die wahllose Vermarktung seiner selbst für selbstverständlich zu halten und widersinnigerweise, trotz des immer schnelleren Veraltens der Qualifikationen, alles daranzusetzen, qualifikatorisch ‹am Ball zu bleiben›.» Ziel heutiger Bildung sei «die Akzeptanz des post-fordistischen Legitimationsmusters, dass das Recht der Partizipation an den prinzipiell knappen Früchten der gesellschaftlichen Arbeit nur jenen zusteht, die ihre grundsätzliche Austauschbarkeit akzeptiert haben und, aus diesem Bewusstsein heraus, sich permanent um ihre weitere und bessere Vermarktbarkeit bemühen» (Zitat Wikipedia).
Als nächstes möchte ich noch lernen, solche Einsichten auf träfe Sprüche einzudampfen. Dann verschlägts mir hoffentlich nicht mehr die Sprache, wenn wieder einmal, wie neulich, ein Kollege über eine Kollegin (die 55 ist und sich auf die Pensionierung freut) sagt: «Sie ist stehen geblieben. Sie entwickelt sich nicht mehr weiter.»