Liebe Frau Flückiger!

Ihrem offenen Brief als Vize-Miss im «Blick am Abend» ist es zu verdanken, dass so etwas scheinbar Unpolitisches wie die Wahl der «Miss Schweiz» schon zum zweiten Mal hier besprochen wird. Es liegt mir fern, Ihnen etwas «an den Kopf werfen» zu wollen, wie Sie fürchten. Das wäre tatsächlich sinnlos. Lieber möchte ich Ihre Klage über den Rauswurf der Missenwahl aus dem Schweizer Fernsehprogramm ein wenig anders verdrahten.

Sie bedauern, dass der Anlass in der neoliberalen Strömung keine Existenzberechtigung mehr habe, weil beim Fernsehen nur noch die Leistungs-, Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit zähle. Das ist tatsächlich eine bedauerliche Entwicklung. Mir scheint jedoch, dass gerade eine Schönheitskonkurrenz die Essenz des neoliberalen Leistungswettbewerbs in sich trägt: Zwar kann eine einzelne junge Frau praktisch über Nacht reich und berühmt werden. Hier finden wir das Märchen vom Tellerwäscher wieder, der es von ganz unten nach ganz oben schafft. Ausgeblendet wird dabei, dass alle andern leer ausgehen, auch wenn sie sich genau gleich angestrengt haben, gerade so wie die grosse Masse der Tellerwäscher, Schuhputzer, Zimmermädchen, Pflegehilfen usw. überall auf der Welt, die nicht das Glück hatten, zufällig die gestellten Kriterien zu erfüllen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Die Illusion, dass ihnen allen das grosse Los noch winkt, hält das neoliberale System am Laufen.

Chancengleichheit, Integration und Partizipation bleiben da (wie Sie beklagen) natürlich auf der Strecke. Allerdings war dies schon so, bevor sich das Fernsehen gegen eine Übertragung der Missenwahl entschieden hat. Dicke, Stumme, Blinde, Gehörlose, Arm- oder Beinamputierte mussten schon immer draussen bleiben. Die Extra-Leistung, die sie erbringen müssen, wenn sie einfach normal am Leben teilhaben möchten, verschafft ihnen weder ein Krönchen noch sonstige Erleichterungen.

Verständlicherweise ärgern Sie sich auch darüber, dass alle Kandidatinnen in den gleichen Topf geschmissen und ihre Fehler über Gebühr aufgebauscht werden. Vielleicht ist es jedoch eine Illusion zu glauben, solche Wettbewerbe hätten tatsächlich nur das hehre Ziel, die Beste aller Schönen zu küren. Denn: Lebt nicht alles mediale Theater vom Hochjubeln und dem Verriss? Ist nicht jedes glamouröse Medienereignis auch dazu da, eine spektakuläre Fallhöhe für insgeheim erhoffte Abstürze aufzubauen? Was das mediale Umfeld sonst noch bietet, nährt jedenfalls meinen Verdacht, dass das Fernsehen nicht ausschliesslich den Zweck hat, die Menschen mit Schönheit und Grazie zu erbauen. Der Neid aller Tellerwäscher und Zimmermädchen ist wohl eine fest eingeplante Grösse im Missen-Spektakel. Könnte dies der Preis sein, den die Gewinnerin für ihre Privilegien bezahlen muss?

Sie leiden darunter, dass man Missen Narzissmus und Talentfreiheit vorwirft. Damit sind Sie nicht allein. Das ist die ganz normale Misogynie, die sich hinter dem janusköpfigen Schönheitsgebot für die Frau immer versteckt: Als Hässliche sind Sie keine richtige Frau, als Schönheit sind Sie «bloss» ein Weibchen. So oder so haftet an Ihnen der Makel, kein Mann zu sein. Und daher werden Sie nicht für voll genommen – obwohl Sie eine Persönlichkeit mit Herz, Hirn und Charakter sind.