Es hat auch sein Gutes, ein weiblicher Teenager mit den arttypischen Fressattacken gewesen zu sein. Ich kann daher mühelos nachvollziehen, was die Psychoanalyse über das Begehren sagt: Nämlich, dass es grundsätzlich unstillbar ist. Mein Fressbegehren drehte sich um etwas schwer zu Beschreibendes; etwas Weisses, Weiches, Mildes; etwas, das ich in Marshmallows, kalten Kartoffeln, Camembert, entrindeten Butterbroten, Yoghurtglacé oder in einem Löffel voll Margarine, den ich in die Zuckerdose tauchte, nicht finden konnte – auch die eingestreuten Kontraste halfen nicht, mit denen ich meine Mampf-Odyssee interpunktierte: Chips, Schokolade, Wurst … Nur der unvermeidliche Bauchschmerz setzte der «Suche» ein Ende, diesem von vornherein zum Scheitern verurteilten «pursuit of happiness».
Als meine Grossmutter starb, bei der ich den grössten Teil meiner eher rauen Kindheit verbracht habe, musste ich mich lange Zeit vom Zürcher Oberland fernhalten. Ich konnte nicht einmal Landkarten dieser Gegend ertragen, in der sie ihr ganzes Leben gelebt hatte, oder das Gebiet auch nur in Google zufällig streifen, ohne in Tränen auszubrechen oder wenigstens Herzklopfen zu verspüren, wenn ich die vertrauten Flurnamen las. Meine Grossmutter war viele Jahre an ihrem Wohnort Wald und in seinen weitherum verstreuten Aussenwachten als Vertreterin von Tür zu Tür gegangen – die meiste Zeit davon zu Fuss – und hatte Abonnemente für das «Frauenfleiss», also die spätere «Orella» und nachmalige «Annabelle», angeboten. Eine Zeit lang waren es auch Waschmaschinen, die vom Händler mit einem Auto auf die entlegenen Höfe gefahren und dort angeschlossen wurden, damit meine Grossmutter demonstrieren konnte, wie mühelos man damit wusch und wie sauber die Wäsche wurde. Ein andermal hatte sie Shampoo im Gepäck, Marke «Goldstern» mit goldenen Etiketten und einem aufgeklebten Stern, ein Produkt, das sie mit meinem Grossvater zusammen in einer Art Heimindustrie selber herstellte, aus roher Schmierseife und Duft-Essenzen. In meiner Kindheit badete ich ausschliesslich in Schaumbädern der Duftrichtungen «Chypre» oder «Apfelblüte» und wusch mein Haar mit «Biershampoo». Natürlich war ich neidisch auf das «Badedas» oder «Timoteï» meiner Schulkameradinnen. Zum Abwaschen und Putzen kam im Haushalt meiner Grossmutter noch jahrzehntelang nur die Schmierseife zum Einsatz, die nach der Auflösung des Geschäfts übrig geblieben war und in grossen Fässern in unserem Keller lagerte.
Meine Grossmutter kannte also jeden Weiler, jedes Quartier, jede Strasse und auch die meisten Menschen, die dort lebten, und es gab kaum ein Tischgespräch, an dem sie nicht etwas sagte wie: «Dieser Herr Vogt in Bern, ist das nicht vielleicht ein Verwandter von jenen Vogts, die hier auf dem Hüebli wohnen?» Von einer dörflichen Enge, in die ich als seltsamer «Kegel» nie richtig integriert war und vor der ich schon bald, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit und noch bevor ich 18 wurde, dankbar geflohen war, war dieser Landstrich nun plötzlich zur Heimat geworden; exakt genau erst dann, als ich diese mit dem Tod meiner Grossmutter für immer verloren hatte.
Später überfielen mich plötzlich ihre Redensarten: «es Gnuusch im Fadezeindli»; «Aller Augen warten auf diich, und wännd nöd chunsch, dänn iss iich»; oder als Abschwächung eines Seufzers: «Jaja … hät si gseit, häts Chörbli abgstellt und isch wiitergloffe». Gerne hätte ich mein Andenken an sie mit dem Praktizieren dieser Aussprüche lebendig gehalten, aber es war immer nur die Erinnerung an ihren Tod, die wieder lebhaft wurde.
So ist das mit dem Objekt der Begierde, Lacans «objet petit a», das sich stets mit seinem Fehlen deckt, immer schon verloren war und immer erst ex post, als vermisstes und «wieder» zu findendes konstruiert und vergeblich herbeigesehnt wird.