Rache ist Socke

Kürzlich sass ich im Zug und fuhr durch die Schweiz. Ich wollte nichts weiter tun, als ein wenig vor mich hin blubbern oder zum Fenster hinausschauen oder etwas lesen. Daran war aber nicht zu denken. Denn aus dem Nachbar-Abteil erscholl Gedröhn aus den Kehlen von vier Herren, die den Anschein machten, als seien sie heute nur ausnahmsweise mit dem Zug und auch nur aus Versehen in der zweiten Klasse unterwegs. Da der Wagen voll war, gab es auch keine Möglichkeit auszuweichen. Zwar bin ich gewiss nicht der Meinung, es dürfe in der Öffentlichkeit nur geflüstert werden. Aber in Verkehrsmitteln ist das so eine Sache mit der Privatsphäre: Was immer jemand tut – es gerät gewollt oder ungewollt zu einer Aussage an die Adresse der Mitreisenden.

Ich vertiefte mich in eine Socke, an der ich auf Bestellung meiner Tochter seit Weihnachten stricke (es gibt tatsächlich noch Kinder, die selbstgestrickte Wollsocken haben wollen) und versuchte, den Lärm zu ignorieren. Wenn man so nah aufeinander sitzt und rundherum Stille herrscht, muss man eigentlich nicht schreien – ausser man hat ein erweitertes Hörpublikum im Visier, das auch mit dem Witz und der Weisheit der Runde beglückt werden soll. Jedenfalls wurde nebenan lauthals vom Leder gezogen über einen Deppen aus dem Bekanntenkreis, der sich überall in die Nesseln setzt und es sich mit allen verdirbt. Ausgehend von dieser lebenspraktischen Überlegenheit wurde dann das weitere Feld der Sozialschmarotzer beackert, dann die segensreichen Heldentaten rechtsbürgerlicher Politik gerühmt und zuletzt war man sich einig über die rote Verschwendungssucht der Sozis, die immer noch mehr Geld für weichgespülten Blödsinn aus den Taschen der ehrbaren Steuerzahler zögen. Dazwischen der gelegentliche Gockelwitz auf Kosten des Gegenübers und ein paar sexistische Zoten, Seitenblick zu mir. Dann endlich: Bern – aussteigen!

Die Rückreise war zum Glück anders. Der Zug war voll mit Frauen (und Männern!), die sich über die gelungene, farbige und sinnvolle Frauendemo freuten und sich fragten, wieviele Tausend da wohl mitmarschiert seien. Im Abteil neben mir bemerkte ich plötzlich einen der Herren aus dem fidelen Kleeblatt auf der Hinreise. Er war allein. Ich kramte meine Socke hervor. Er ächzte und scharrte ungemütlich mit den Füssen. In meinem Abteil wurde über die gewonnene Abstimmung triumphiert: Wir lassen uns doch nicht von den Bonzen über den Tisch ziehen! Besagter Herr versuchte ein Gespräch mit seinem Sitznachbarn. Fehlanzeige: Der wollte lieber am Computer arbeiten. Als wir gerade Erfahrungen mit schikanösen Sozialbehörden austauschten, fuhr seine Hand zwischen unsere Köpfe, um einer asiatisch aussehenden Frau ein Schloss zu zeigen. «It’s the biggest castle in Switzerland.» «Danke, aber ich fahre jeden Tag hier durch», sagte sie auf Berndeutsch und wollte Kopfhörer aufsetzen, als ihr Blick auf meine Socke fiel. «Sie stricken? Das wollte ich auch schon lange wieder anfangen!» Und dann fachsimpelten wir über den Gang hinweg und unter der Nase des Herrn bis nach Zürich über Sockenwolle, Maschenberechnung und Stricknadeln…