Schuldfrage

Als ich ein Kind war, lebte ich mit den Erzählungen meiner Grossmutter. Es waren keine Märchen, sondern Geschichten aus der Geschichte der Schweiz.

Eine handelte von meinem Grossvater, der nicht so alt geworden ist, wie ich heute bin. 1949 starb er, mit 39 Jahren, an Krebs. Er hinterliess meine Grossmutter und drei Schulkinder. Davor hatte er bei Bührle in der Maschinenfabrik gearbeitet: Herstellung von Landmaschinen für die Anbauschlacht – hiess es. Mit der Zeit sickerte jedoch durch, was am Ende hinter vorgehaltener Hand die Runde machte: Es wurden Waffen für Hitler produziert. Mein Grossvater kündigte mitten im Krieg diese Stelle – an den Machenschaften der Nazis wollte er kein Geld verdienen. (Für solche Zivilcourage gab es keine Belohnung – im Gegenteil. Den gutbürgerlichen Respektspersonen im Dorf rutschte besonders gern an den Söhnen und auch noch an den Enkelinnen des roten Sozis die Hand aus …)

Diese Geschichte ist in mein Gewissen eingebrannt. Sie sagt mir: Es gibt keine Entschuldi­gung für Nichtwissenwollen, für Entsolidarisierung. Nicht Mangel an Einfluss oder fehlende Anerkennung, nicht Armut oder Krankheit rechtfertigt politische Ignoranz. Besser als jede Entschuldigung ist, sich keine Schuld aufzuladen.

50 Jahre nach jenem Ereignis, im Vorfeld des Bergier-Berichts, entschuldigte sich Bundesrat Villiger für die damalige Haltung der Schweizer Politik. Es war eine notwendige, aber eine scheinheilige Entschuldigung, ein Werben fast um Verständnis für die «Angst vor Überfremdung». Ein Lippenbekenntnis, denn gleichzeitig sträubten sich bürgerliche Bundesräte, das Richtige zu tun: die Schuld zu tilgen und Opfer für erlittenes Unrecht zu entschädigen. Es machte den Eindruck, als sollte die Schuld nicht anerkannt, sondern im kollektiven «Wir-sind-alle-Mitverantwortlich» durch 7 Millionen Schweizer geteilt und also für den Bundesrat auf ein Millionstel-Schüldchen reduziert werden. Daneben verweigerte die offizielle Schweiz weiterhin die Herausgabe nachrichtenlosen jüdischen Geldes. Rechte Polterer, wie etwa Luzi Stamm, konnten noch Jahre lang die HistorikerInnen als «linke Nestbeschmutzer» an den Pranger stellen, die mit ihren Enthüllungen den Ruf der Schweiz beschädigt hätten.

Auch heute wieder: Fremdenhass, und die Schuldfrage. Ein dreckiger rechtspopulistischer Finger zeigt auf so genannte «Ausländer» und konstruiert mit manipulierten Statistiken deren angebliche Schuld an jedem gesellschaftlichen Übel schlechthin – sei es die Kriminalität, die Wirtschaftskrise, die Verluderung des Sozialstaats*. Noch ein dreckiger rechtspopulistischer Finger – sieh an: mit linken Flügeli! – zeigt auf die Menschen, die sich solidarisieren, und beschuldigt sie, dem Wohlergehen der Schweiz zu schaden.

Wer unbedingt wollte, konnte damals in der Maschinenfabrik gerne glauben, dass die Kanonenteile in Wirklichkeit Pflüge seien. Wer unbedingt will, kann heute der SVP und dem Bundesrat glauben, dass die Kriminalität von den Ausländern kommt. Wer sich jedoch nicht am Rassismus die Finger schmutzig machen will, wer sich weigert, am gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zündeln, wer unseren Enkelkindern dereinst stolz die Geschichte erzählen möchte, sagt zweimal nein.

* Zum Zeitpunkt, als diese Kolumne verfasst wurde, waren die dreistesten Lügen der SVP auf www.wasdiesvpver­­heimlicht.ch gesammelt verfügbar; der Link ist leider nicht mehr aktiv.