Dritte Zähne

Zu Weihnachten möchte ich mich gerne einmal für alle Ihre Zuschriften bedanken! Nicht immer hatte ich Zeit und Musse, mich persönlich zu melden, und ich hoffe, Sie fühlen sich auch auf diesem Weg gebührend wahrgenommen.

Das Thema der prophylaktisch gezogenen Frauenzähne hat mehrere Antworten provoziert, die alle etwa in die folgende Richtung gehen (ich fasse eine Zuschrift zusammen): «Die Medizinhistorikerin Verena Müller hat mir bestätigt, dass bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein vielen Frauen schon in jungen Jahren die Zähne gezogen worden seien, das habe jede Schicht betroffen. U.a. sei es im Bernbiet in den vornehmen Bauernfamilien üblich gewesen, dass die dritten Zähne zur Mitgift gehört hätten. Man sei damals davon ausgegangen, in Unkenntnis von geeigneter Zahnpflege und Kariesverhütung, dass es am effektivsten sei, eine Frau habe schon bei der Eheschliessung die dritten Zähne im Sack, um nachher nicht beim Mann dafür um Geld betteln zu müssen. Denn dass der Moment komme, wo man bzw. frau nicht mehr auf den Originalzähnen herumkauen könne, sei ausser Zweifel gewesen. Die Zähne der Männer seien vor der Heirat nicht durch ein Gebiss ersetzt worden, weil man von diesen erwartet habe, dass sie es dann selber berappen würden. Schliesslich seien sie ja die Ernährer gewesen.»

Gerade weil das alles so plausibel scheint, greife ich das Thema nochmals auf. Sicher gab es damals rationalisierende und vordergründig wohlwollende Begründungen für das barbarische Tun. Auch heute hält man vieles für naturgegeben oder logisch, wofür es tatsächlich nur irrationale Gründe gibt: Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung Minderjähriger, Ehren- oder Mitgiftmorde, aber auch die Burka oder den Schlankheitszwang. Ich möchte fast sagen: Je grausamer der Brauch, desto dringender wird seine gesellschaftliche Notwendigkeit behauptet. Und immer bleibt die weibliche Selbstbestimmung auf der Strecke. Die Logik geht auch nur innerhalb des Systems von Geschlechterdiskriminierung auf. Lässt man Frauen am öffentlichen Leben teilhaben, einen existenzsichernden Lohn verdienen und ihr Leben selbst bestimmen, dann fallen plötzlich viele angebliche Sachzwänge weg.

Der Glaube, das Richtige zu tun, hat sicher viele Frauen ein wenig über den Verlust der Zähne hinweggetröstet. Ich nehme aber an, wenn man ihnen die dritten Zähne einfach im Sack mitgegeben hätte, so wäre das für unsere Grossmütter durchaus in Ordnung gewesen. Im Leben der meisten Frauen bis zum Wirtschaftswunder hat es ja nie einen Ernährer gegeben. Man war schlicht zu arm für das gutbürgerliche Rollenmodell. Wie sehr aber die gutsituierten Frauen unter der Versorgtheit beim Ehemann gelitten haben, dafür gibt es zahllose Beispiele (lesen Sie mal Effi Briest, Madame Bovary, Nora, die Buddenbrooks usw.). Gerne wird deren Leiden unter dem Terminus «frustrierte Ehefrau» abgetan. Aber man muss doch fragen, warum die Frauen überhaupt beim Gatten um Geld betteln mussten? Weil sie als zweitklassige, unmündige Menschen galten, denen es nicht erlaubt war, ohne das Einverständnis eines Mannes (Vater, Bruder, Ehemann, Vormund) Geschäfte zu tätigen. Geld an sich war ja in wohlhabenden Schichten nicht das Problem.

Freuen Sie sich nun an Ihren echten Zähnen oder selbst gekauften Prothesen und hauen Sie sie mit Genuss in Weihnachtskekse, -gänse, -stollen und -pasteten!