Babydrill?

Mein Schwiegervater führt ein geflügeltes Wort: «Manche Kinder finden nicht wegen, sondern trotz der Schule ihren Weg.» Er hat früher selber LehrerInnen ausgebildet und führt heute einen Kleinverlag für Lehrmittel. Skepsis gegenüber der Schule ist in den eigenen Reihen aber offenbar weit verbreitet. Auch ich argwöhne bisweilen – insbesondere seit ich selber Mutter bin – dass die Schule nicht so sehr die Kinder befähigen als vielmehr die ganze Familie disziplinieren und zur Konformität erziehen wolle. Der lange Arm des Staates kann via Schule massiv in die private Lebensgestaltung eingreifen. Das muss gut legitimiert sein.

Eine Pflicht hat immer zwei Seiten. Einerseits bildet sie die egalitäre Grundlage für entsprechende Rechte: dass die öffentliche Schule allen offen steht, dass sie gratis ist, dass der Schulweg organisiert ist usw. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass der Weg hinaus nur nach oben frei ist. Nur wer es sich leisten kann, darf zugunsten einer Privatschule auf die öffentliche verzichten. Drum sammelt sich in der Schule die Unter- bis untere Mittelschicht – ein Soziotop, das den Oberen und mithin Regierenden per se suspekt und disziplinierungsbedürftig erscheint. So haben denn wohl bürgerliche Politiker kaum die eigene Brut im Visier, wenn sie den Eintrag von Absenzen ins Zeugnis fordern, musische Fächer kürzen wollen, kantonsweit vergleichbare Examen verlangen oder beschliessen, dass einem Hortkind neuerdings zwei statt vier Quadratmeter genügen müssen.

Wohl trifft es zu, dass die Einführung der allgemeinen Schulpflicht gesamtgesellschaftlich den Wohlstand gesteigert hat. Dennoch muss man genau hinschauen. Heute hängt der Bildungserfolg des einzelnen Kindes wesentlich mit dem Elternhaus zusammen. Je kultivierter das Elternhaus, desto besser die Chancen des Nachwuchses (abzulesen an der Anzahl Bücher). Dazu müssen Eltern aber Zeit und Energie haben, sich auch persönlich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen und ihnen Kultur weiterzuvermitteln. Dem steht entgegen, dass gerade die Mittel- und Unterschicht, die auf die Volksschule angewiesen ist, in letzter Zeit durch eine gigantische Umverteilung nach oben (via Steuergeschenke und Lohnschere) regelrecht ausgeplündert wurde. Unter der Mitte strampelt man wacker – wie die Frösche in der Fabel, die in die Milch gefallen sind. Den Rahm, der dabei geschlagen wird, schöpfen allerdings andere ab.

Mit den Verlierern, welche die Wirtschaftselite produziert, will sie selber je länger desto weniger zu tun haben. Auch und gerade in den Schulen. Einem hehren Integrationsleitbild stehen eine desolate finanzielle Situation der Volksschule und der lauter werdende Ruf nach der Rückkehr zum Drill gegenüber. Darum will gut überlegt sein, was es wohl zu bedeuten hat, wenn nun einer Vorverlegung der Bildungspflicht ins Kleinkindalter das Wort geredet wird, wie in der letzten NZZ am Sonntag von Ernst Fehr, Leiter des Instituts für empirische Wirtschaftsforschung an der Uni Zürich. Das Argument, dass damit das BIP jährlich um ein Prozent gesteigert werden könne, macht mich als Bildungsfachfrau jedenfalls misstrauisch. Und wenn ich lese, dass es inhaltlich vor allem um die Charakterbildung gehen soll, bin ich nachgerade dankbar, dass ich selber kein Kleinkind mehr haben werde.