Eine lange Weile

Neulich fuhr ich mit meiner Tochter Auto. Unser Kater musste wegen einer lahmen Pfote zur Tierärztin. Plötzlich pfiff mein Teenie anerkennend und lobte: «Wow, da standen zwei tolle Schlitten!» Und ich: «Seltsam, dass du sowas bemerkst. Als ich in deinem Alter war, haben mich Autos überhaupt nicht interessiert.» Und sie: «Was hat dich denn interessiert?» Darüber musste ich lange nachdenken. Hatte ich Hobbys? Nicht direkt. Ich tat lauter langweiliges Zeugs. Liess mir per Versand Wolle kommen und strickte Pullis aus dem Kopf, die nie fertig wurden, weil mir meist eine zündende Idee für den Kragen oder die Knopfleiste etc. fehlte. Ich zeichnete, bastelte, schneiderte. Oder ich sammelte Blätter, trocknete sie und bestimmte die Bäume nach botanischem Schlüssel. Mein bester Freund war Ueli aus Tann. Wir waren kein Paar, aber wir ergänzten uns gut. Ich war offenbar ein freches Gör, er aber ein distinguierter Knabe, der sich zu benehmen wusste, und so spendierte meine Grossmutter freudig Most und Kekse. Wir velölten in der Gegend herum, durch Wald hinaus, dann durch Laupen, im Schuss hinunter nach Bürg und – Scheisse – die ganze steile Abfahrt auf dem Rückweg wieder bergauf. Oder wir wollten wissen, wie weit man zu Fuss kommen konnte, möglichst leicht bekleidet und ohne etwas mitzutragen, ausser etwas Münz für die Heimfahrt im Zug. Bei Regen schrieben wir uns Briefe, obwohl wir uns täglich in der Schule sahen. Daneben las ich extrem viel. In der Schulbibliothek der Kanti Wetzikon ackerte ich mich durch sämtliche wahrscheinlich etwa 20 Sammelbände «Theater des 20. Jahrhunderts». So verschlang ich Beckett, Frisch, Sartre, Brecht … – einfach alles. Und bei uns zuhause verleibte ich mir ein ganzes Gestell voller Goldmann-Krimis ein (wohl eine Überdosis, denn heute sagt mir das Genre nichts mehr). Meine beste Freundin war meistens meine Schwester, mit der ich nichtsdestotrotz leidenschaftlich stritt. Wir schnitten einander (einvernehmlich) die Haare, mopsten Fressalien aus dem Keller oder nahmen mit dem Kassettenrecorder erfundene Hörspiele auf. Jeden Samstag verbrachten wir im Hallenbad, sommers in der Badi, und sonntags stapften wir hinter unserem Vater her quer durch den Wald – abseits aller Wege, so dass man ihm dicht auf den Fersen bleiben musste, um sich nicht zu verirren. Meine eindrücklichsten Erinnerungen ans Zürioberland sind daher nicht nur die märchenhaften Hügel des Tösstals, sondern auch die Hinteransicht der väterlichen Schuhe im Buchenlaub. Natürlich gab es auch Fernsehen, und wir jammerten jeden Samstagabend unserer Grossmutter die Ohren voll, weil wir noch länger schauen wollten. Aber oftmals sass ich dann doch über einem Buch oder einem Kreuzworträtsel und bekam von den Filmen nur die Tonspur mit. Noch heute überraschen mich alte Filme, die ich zwar am Klang erkenne, deren Bilder ich mir aber ganz anders vorgestellt hatte. Ausserdem ging ich wirklich gern zur Schule! Nicht dass ich eine Musterschülerin war, aber für mich war es eine Offenbarung, der dörflichen Enge und der grossmütterlichen Strenge tagsüber zu entfliehen und mich mit Wissen bis obenhin vollzustopfen. «Mama, Hallo? Erde an Mama! Steigen wir aus? Tigi will aus dem blöden Käfig raus. Was studierst du so versunken!» – «Ach, nichts eigentlich. Nur so langweiliges Zeugs…»