Noch nicht am Ziel

Margarethe Mitscherlich,  Psychoanalytikerin und eine der grossen feministischen Denkerinnen des letzten Jahrhunderts, ist mit 95 Jahren verstorben. Bis zuletzt hat sie noch therapeutisch gearbeitet, und ihre Ansichten zur geschlechterpolarisierten Welt bleiben brandaktuell. Man könnte sie als jene Feministin karikieren, die behauptet habe, Frauen seien die besseren Menschen als Männer. Aber das wäre oberflächlich und dumm. Eines ihrer Hauptanliegen war, darzulegen, dass die Geschlechterrollen weitgehend durch gesellschaftliche Zuschreibungen geprägt seien – während gleichzeitig die körperlichen Möglichkeiten beiden Geschlechtern die völlige Wahlfreiheit im Bezug auf ihre Lebensgestaltung versagten. In der Geschlechterpolarität, die den Alltag vieler Gesellschaften dominiert, sah sie ein anerzogenes Ungleichgewicht von Aggression und Friedfertigkeit – ohne den Frauen zu raten, sie sollten sich an den Männern ein Beispiel nehmen.

1987 schrieb sie das Buch «Die friedfertige Frau» und dort: «Mittlerweile kämpfen die Feministinnen zwar noch für berufliche und ökonomische Gleichstellung, einige verwechseln auch nach wie vor den Kampf um die Gleichberechtigung mit einem irrationalen Kampf um die Gleichheit der Geschlechter, aber die führenden Vertreterinnen kämpfen schon lange nicht mehr um Gleichschätzung. Ihrer Meinung nach haben die letzten Kriege gezeigt, dass eine männlich regierte Welt zur endgültigen Zerstörung allen Lebens führen muss. Die ‹feministische Revolution› kämpft heute dafür, dass die Frauen mit ihren kritischeren, objektbezogeneren Einschätzung dessen, was bisher unter ‹Werten› verstanden worden ist, stärkeren Einfluss und grössere Macht auf gesellschaftliche Meinungsbildungen und auf politische Entscheidungen gewinnen. Frauen brauchen diese Macht, um die destruktiven Tendenzen der Männergesellschaft mildern und Verhältnisse ändern zu können, die zum Hass herausfordern müssen. Diese Auseinandersetzung um die Selbstentfremdung der Menschen steht im Mittelpunkt ihres Kampfes.»

Eine destruktive Tendenz der heutigen Männergesellschaft ist es – ja, ich wiederhole mich – selbst menschenbezogene Tätigkeiten einem Leistungs- und Profitgedanken zu unterwerfen. Schopenhauer schrieb einst: «Zu Pflegerinnen und Erzieherinnen unserer ersten Kindheit eignen die Weiber sich gerade dadurch, dass sie selbst kindisch, läppisch und kurzsichtig, mit einem Worte, Zeit Lebens grosse Kinder sind (…) Man betrachte nur ein Mädchen, wie sie, Tage lang, mit einem Kinde tändelt, herumtanzt und singt, und denke, was ein Mann, beim besten Willen, an ihrer Stelle leisten könnte.» Die Leistungsmoral dringt nun in vitale Bereiche des menschlichen Lebens ein, die bisher vor ihr geschützt, da «nur» Frauensache waren. Sie äufnet dem Kapital neues Territorium zur Ausbeutung: In Haushalt, Pflege, Erziehung, Betreuung von Kindern, Alten und Kranken werden nun die Daumenschrauben angezogen und Profitmaximierungsmassstäbe angelegt. Wir können es uns immer weniger leisten, uns selber um das Lebendige an sich zu kümmern – so dicht ist unser Leben mit Mehrwerterzeugung ausgefüllt. Jemand muss es einfach billiger, schneller und vor allem rentabel machen, auch wenn das gar nicht möglich ist. Auch wenn das am Ende zum Hass herausfordert.

Die Feministinnen sind noch nicht am Ziel – kämpfen wir weiter gegen die Selbstentfremdung!