Zähne zeigen

In einer dieser drolligen Kolumnen in einem Gratisblatt beklagte sich neulich deren Autorin über Gebissklappern, das von einer alten Frau ausgegangen und von dem sie auditiv belästigt worden sei. Gebisse können so allerlei Assoziationen hervorrufen: Ein prototypisches Greisenattribut, kommt in lustigen Witzen vor, man denkt an mangelnde Mundhygiene oder fehlendes Budget für befriedigendere Zahnprothetik. Meine Grossmutter hatte auch ein Gebiss. Und da ich als Kind viel Zeit bei meiner Grossmutter verbrachte, hörte ich es tatsächlich ab und zu klappern. Viel öfter aber hörte ich meine Grossmutter drüber klagen. Es schien Ursache steter Schmerzen im Mund und wiederkehrender Zahnarztbesuche mit gesalzenen Rechnungen zu sein. Also auch nicht eben budgetfreundlich. Als Kind wollte ich wissen, warum meine Grossmutter, die bei uns Enkelinnen viel Wert aufs Zähneputzen legte, überhaupt so schlechte Zähne bekommen konnte, dass sie ein Gebiss tragen musste. Die Antwort hat mich zutiefst schockiert und bis heute nicht mehr losgelassen.

Als meine Grossmutter etwa neunzehn Jahre alt war, bekam sie einmal Zahnschmerzen. Sie wurde zum Zahnarzt geschickt, der einen faulen Zahn diagnostizierte und diesen zog. Und dann zog er alle anderen – gesunden – Zähne auch noch. Meine Grossmutter hat zwei Tage und zwei Nächte lang nur geweint. Und von da an trug sie ein klappriges Dutzend-Gebiss. Die Erklärung zu dieser Ungeheuerlichkeit lautete: So spare man sich künftige Scherereien mit den Zähnen. Schon als Kind kam mir das irgendwie fadenscheinig vor. Man konnte doch auch mit Zahnlücke gut leben, und wieso gab es denn überhaupt noch Leute mit eigenen Zähnen? Nun war meine Grossmutter freilich nur Pflegekind gewesen, dazu noch bei Eltern, die ihrerseits ihre Grosseltern hätten sein können – eine direkte Verbindung ins vorletzte Jahrhundert mit seinen rigiden Sitten. Der Sinn aber erschloss sich mir erst durch einen englischen Bestseller, in dem der Autor genau diese Barbarei beschreibt, die seine Mutter erlitten hatte, und zwar mit der Begründung: Einer Frau müssen vor der Ehe die Zähne gezogen werden, damit sie nicht zu selbstbewusst wird, sondern froh ist, wenn einer sie überhaupt noch nimmt.

Wahrscheinlich war es kein flächendeckender Brauch. Es war wohl nur eine lokal begrenzte – aber immerhin doch über Europa verbreitete – Methode. So wie es viele andere Methoden gab (und auch heute noch gibt, wenn vielleicht auch nicht hier), um eine junge Frau gefügig zu machen. Meine Schwiegermutter jedenfalls wuchs – mitten im 20. Jahrhundert – immer noch unter einem Vater auf, dessen erklärtes Erziehungsziel es war, seinen Töchtern den Willen zu brechen.

Wir haben seither einen weiten Weg zurückgelegt. Nicht zur Freude aller. Einige fühlen sich arg bedroht von Frauen, deren Willen ungebrochen ist. Der Focus etwa titelt diese Woche: «Im Zweifel gegen den Mann», und suhlt sich in beispielloser Larmoyanz: «Sexistische Rechtssprechung» (natürlich gegen die Männer); «Benachteiligt? Wer denn?» (wahrscheinlich nicht die Kellnerin, die dieses Jahr sogar 23% weniger verdient als der Kollege); «Mir kommen die Tränen» – uns aber nicht. Wir zeigen Zähne, lachend oder bleckend. Und wer keine mehr hat, klappert halt mit dem Gebiss.