Moralin

Um vor der Euro ins Kino zu flüchten, versorgte ich mich kürzlich in einem Coop Pronto mit Chips und Getränken. Die Kassierin hatte gerade eine engagierte Diskussion mit einem erwachsenen Kunden. Er wollte für eine Hand voll Schulbuben, die zuvor bei der Kassierin abgeblitzt waren und unterdessen draussen warteten, zwanzig Flaschen Bier erstehen. Sie: «Das ist nicht der Sinn des Gesetzes. Alkohol gibts erst ab 16.» Er: «Schon gut, es ist für mich selber.» Drei Minuten später ziehen die Knaben triumphierend mit dem Gesöff durch die Langstrasse, ihr Wohltäter genüsslich lächelnd und im selbstgefälligen Schlendergang (so wollte mir scheinen) hintendrein.

Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich falsch liege. Vielleicht gehören besoffene Kinder ja ebenso unvermeidlich zum Stadtbild wie verkotzte Tramhäuschen, Hundekacke im Sandkasten und gefüllte Pariser im Hinterhof. Aber schön und erstrebenswert sind solche Dinge nicht. Müssten wir nicht alle den Detailhandelsangestellten dankbar sein, die tapfer und unter Umsatzverlust eine gewisse Ethik zu verteidigen suchen? Von mir jedenfalls ein grosses Dankeschön an die beherzte Verkäuferin!

Was jedoch das Grossherz zu seiner Tat bewogen hat, kann ich nur vermuten. «Wir waren doch auch mal jung. Wir sind doch keine Spiesser. Immer diese moralinsauren Spassverderber.»

Etwas anderes. Im Getöse des Euro-Kommerzes ging das fast unter: Zwei Fussballspieler des FC Thun sind wegen sexuellen Handlungen mit einem Kind verurteilt worden. Es war immerhin keine Schändung, denn das Kind hätte sich trotz Bekifftheit wehren können und war sogar einverstanden. Dieser letzte Umstand wird von Gratismedien, an Stammtischen und sogar in meinem Bekanntenkreis (die Bekanntinnen sind für einmal nicht mitgemeint) gerne genüsslich zur Entschuldigung der Täter ausgeweidet.

«Hähä – die Sorte kennen wir ja, gell!» Potthässlich und unattraktiv sind solche sexbessenen Man-Eaters im Teenageralter gemäss der gängig feil gebotenen Legende. Und doch kriegen sie jeden – aber jeden – ins Bett. Mit solch leichtfertiger Geste wird das Opfer zur Täterin gemacht. «Man weiss ja nicht mehr, was man darf!» – Mann wusste es allerdings auch früher nicht, und wir können das darum nicht einmal Backlash nennen. Zwischen den Geschlechtern ist es einfach immer noch so, dass das Territorium zugunsten des Mannes weit in die Sperrzone der Frau hineinreicht. Ganz besonders im Sexuellen.

Dürfen Erwachsene es zulassen, dass Kinder sich selber schaden? Wenn es so einfach wäre, gäbe es keine Schulpflicht, keine Zahntante, keinen Verkehrspolizisten und zehnmal mehr Couch-Potatoes. Kinder sind unsere Schutzbefohlenen, nicht nur die eigenen – alle. Wenn ein Kind auf die Strasse rennt, dann halten Sie es ja hoffentlich zurück, auch wenn es nicht Ihres ist. Die Frage, ob Erwachsene es gar ausnützen dürfen, wenn Kinder sich selber schaden – wenn also Kinder sexuelle Erfahrungen mit Erwachsenen machen wollen – sollte sich damit von selbst beantworten. (Und kommen Sie mir nicht mit der sexuellen Reife! Mädchen können mit zwölf Jahren Kinder kriegen, das macht sie noch nicht sexuell mündig.)

Danke für Ihre spiessige, spassverderberische und moralinsaure Zustimmung!