Ach, Berlin …

Vor zehn Tagen war ich zum ersten Mal in Berlin. Leider kann ich Sie nicht mit dem neusten Muss-man-gesehen-Haben versorgen, denn ich habe mich nur flüchtig umgeschaut. «Wie das?», werden Sie sich wundern, «Ist Frau Müller etwa nicht reisegewandt, neugierig und weltoffen?». Diese Frage möchte ich überspringen. Wahrscheinlich ginge es auch nicht als Geheimtipp durch, wenn ich erwähnte, dass ein Duvet, mit dem ich das Volumen eines übergrossen Koffers ausfülle, einem Weichei auf Reisen wie mir gute Dienste leistet (als Unterlage, falls die Matratze für Menschen der Kategorie «live fast, sleep hard» gepolstert ist). Jedenfalls war es so, dass ich mit einer Freundin bei deren Freundin übernachtete (offenbar in Kreuzberg); wir mieteten «Fahrräder», mit denen wir – abgesehen von gelegentlichen Irrfahrten – immer die gleiche Strecke abratterten (Kopfsteinpflaster!), und verbrachten die Tage von früh bis spät an der «Aktionskon­ferenz Care Revolution» in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Da habe ich viel Neues zur Care- oder Sorge-Arbeit gehört, so etwa:  1. Das Wohnen wird in Deutschland in der Problematik der unbezahlten Haus- und Pflegearbeit mitgedacht: Denn was geschieht, wenn Frauen, die bedürftige Angehörige pflegen, Kinder aufziehen und den Haushalt machen, (mehr) bezahlte Arbeit annehmen müssen, weil die Miete zu teuer wird? Was, wenn sie gar an die Peripherie abgedrängt werden, wo es weniger soziale Infrastruktur gibt? 2. Das bedingungslose Grundeinkommen wurde von einigen TeilnehmerInnen zeitweise schon fast als Wunderheilmittel angepriesen, während es in der Schweizer Linken ja umstritten ist. 3. Der Umfang und das Elend der illegalisierten Care reichen an die Dimensionen der Sklaverei heran. Auch Asylzentren zwingen Müttern und Kranken unwürdigste Bedingungen auf. 4. Fallpauschalen pervertieren das Gesundheitssystem, gespart wird gar  nichts: Es gibt medizinisch nicht gerechtfertigte, exponentielle Zunahmen bei Operationen, die für Spitäler rentieren, während Nötigstes, etwa die Spitalpflege, keine Zeit hat. Um Betten maximal auszulasten, werden Pflege­patientInnen in entlegene Heime versorgt und so von ihren Verwandten isoliert. Streik ist auch im Spital möglich, wenn alle am gleichen Strick ziehen. 5. Beim Znacht erklärt Bozena Domanska, warum sie ihr Schweizer Netzwerk für 24-Std.-Pflegerinnen «Respekt» nennt, und nicht «respect», wie die internationalen Schwesterorganisationen: Weil die Frauen hier aus dem Osten kommen, und denen muss man es nicht auf Englisch sagen. 6. Zum Schluss die Care-Resolution: Unsichtbare Arbeit muss sichtbar werden!

Dank der Demo bin ich doch noch etwas herumgekommen und habe erst noch die Chansons von Bernadette La Hengst kennen gelernt (also doch ein Geheimtipp!). Unterwegs kaufte ich von einem Flohmi zwei Underground-Comicbücher als Souvenir. Bücherbilanz: Positiv bzw. negativ, wir wollten ja eigentlich welche verkaufen an der Konferenz (dafür die andere Hälfte des übergrossen Koffers), aber es ging nur eines weg. Uff! Zum Schluss noch eine Binsenwahrheit: Statt «Sesam, öffne dich!» muss man einfach «Velo» sagen. Ach, Berlin… ich komme wieder, keine Frage.

care-revolution.site36.net
respekt-vpod.ch
de.wikipedia.org/wiki/Bernadette_La_Hengst