Hohe Zeiten

Jahres-Rück- und Vorschau: Wurde das Jahr im Einklang mit den Lebenszielen verbracht, sind diese überhaupt richtig gesteckt? Ich wollte ja einst gewerbsmässig fotografieren. Aber ein übles Zerwürfnis hat die Weichen anders gestellt. Einer Freundin gefiel damals meine autodidaktische Kunstfotografie; sie erhoffte sich von mir spezielle Bilder von ihrer Hochzeit. Für einen Assistenten reichte das Budget – eine Pauschale auf der Grundlage von 30 Franken pro Stunde – leider nicht, aber es werde ja eine lockere, lustige Sache.

Dennoch bereitete sich die Bildkünstlerin gewissenhaft vor, übte in einem Treppenhaus die Licht-Situation einer Kirche, lieh sich eine zweite Kamera mit Zubehör usw. Kurz vor dem Ernstfall die Mitteilung, im Gefährt sei leider kein Platz mehr, da nahe Verwandte mitfahren müssten. Also morgens um fünf Uhr aufstehen, allein mit dem Zug nach Parpan reisen, dort Apéros an Heimatstationen und Posen vor historischen Gefährten knipsen, das noch unberührte Mittags-Buffet von vollendeter kulinarischen Ästhetik sich nur fotografisch einverleiben, kurz die Kirche begutachten – hui, schaurig dunkel hier drin…, Blitz aufstellen. Dann zurück zum Festplatz, mangels Freitreppe von einer Mauer herab ein Gruppenbild schiessen – mit 100 Gästen in je vorteilhafter Darstellung. Als nächstes vor der Kirche lauern, ankommenden Brautzug dokumentieren, ums Gotteshaus herumrennen, zum Sigristeneingang herein, alle Stationen des Paars und der Gästeschar in der Kirche einfangen mit dem Hauptanliegen, die stetig aus nächster Nähe filmende und mit einem roten Kleid optisch dominierende Brautführerin aus dem Bild zu halten. Klimax: die einmalige Ring-Zeremonie. Gleich wieder raus und – Scheisse! Irgendwas war drinnen an der Kamera auf Draussen eingestellt! «Äh, liebes Brautpaar, könnten wir bitte den Ringtausch nochmals nachstellen, es ist evtl. zu dunkel geworden.» – «Aber das ist ein unwiederholbarer Live-Moment! Es wird ja wohl etwas drauf sein, oder?» «Ja, schon, aber … na gut, ich versuchs in der Dunkelkammer heraufzuholen.» Anschliessend etwas abseits einen blumigen Hintergrund gesucht für grüppchenweise Aufnahmen der Gäste, die der Tätschmeister des Festes zuweisen soll. Zwei Grüppchen kommen, dann lange Zeit niemand mehr. Mein Hunger hat sich unterdessen selbst gefressen. Plötzlich zieht die ganze Schar an mir vorbei. Wohin gehen die? Hektisch die Geräte abgebaut und hintennachgeeilt. Die zweite Kamera fällt zu Boden, Objektiv futsch. Und Nonstop weiter mit Bildern vom historischen Restaurant, vom schmucken Säli, von originellen Darbietungen, vom Abendessen, … bis zum Beinahe-Kollaps der Fotografin. Sie darf sich kurz hinlegen – bis Mitternacht, wenn als letzter Höhepunkt die mehrstöckige Torte vom Paar gemeinsam angeschnitten wird und danach die fetzige Disco losgeht.

Als Freundschaftsdienst erhalten die Auftraggeber später ausnahmsweise die Negative zur Auswahl der Abzüge. Unnötig zu sagen, dass die Bilder aus der Kirche verwackelt und zu dunkel waren, auf dem Gruppenbild die Füsse abgeschnitten, zu viele Verwandte auf den Bildern fehlten usw. – und ergo das Paar nur die Hälfte zahlen wollte. Selten hat mein Telefon eine hässigere Schimpf- und Fluchtirade weitergeleitet. Aber so hat sich damals immerhin eine Lebensfrage von selber geklärt.