Mittelmass

Ich bin bloss Mittelmass – aber zum Glück bin ich es nicht alleine! Wahrscheinlich bin ich sogar von Mittelmässigen umzingelt, denn ich bin ja Lehrerin. Und: «Für diesen Beruf interessieren sich eher mittelmässige Schüler, wie der deutsche Hochschul-Bildungsreport 2020 zeigt.» So stand es am Montag in «20 Minuten», die ja eigentlich keine Probleme mit Mittelmass bzw. Mainstream hat, ausser es bietet sich Gelegenheit für einen Seitenhieb auf den Lehrberuf – die alte Mär von den Paukern als Ferientechnikern und mit der heutigen Jugend überforderten Sonderlingen (die schon Klein-Journi mit Disziplin und Noten die Kindheit vergällt hatten).

Einmal abgesehen davon, dass hier einfach Daten aus Deutschland über die Schweiz gestülpt werden, obwohl sich die Bildungssysteme doch erheblich unterscheiden: Wie schlimm ist es überhaupt, wenn ein durchschnittlicher Beruf von mittelmässigen MaturandInnen ergriffen wird? Wenn auch in der Schweiz laut Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich «die Maturanden mit den besten Noten eher nicht Lehrer» werden? Oder wenn «nur» rund 15 Prozent der Lehrpersonen sich bezüglich Durchsetzungskraft, öffentlichem Auftreten und Selbstvertrauen top einschätzen? Man ist geneigt zu sagen: Rein statistisch ist das total in Ordnung, sogar eher überdurchschnittlich. Denn MaturandInnen sind ja schon von Beginn weg keine «mittelmässigen Schüler», wie der Artikel glauben machen will. Und in einem normal verteilten Sample – z. B. von Maturazeugnissen – regiert nun mal das Mittelmass: Die grosse Mehrheit kann es ein wenig besser oder ein wenig schlechter, und nur Vereinzelte können fast alles oder fast nichts. Da ist es nicht zulässig, die breite Masse als Versager hinzustellen. Ausserdem sind Lehrpersonen weder Feldwebel noch Alleinunterhalter und im Vergleich zu hochfliegenderen AkademikerInnen auch noch unterdurchschnittlich bezahlt. Wohlwollend könnte man vermuten, dass sie vielleicht solche Dinge gut können, die nicht erhoben wurden: Gemeinsinn stiften, Förder- und Erziehungsbedarf erkennen, mit Menschen aller Arten auskommen, sich täglich Pubertierenden aussetzen, Balance halten zwischen Spass und Ernst, sich der Jugend bis zur Aufopferung verantwortlich fühlen, einem Wust von immer neuen Verwaltungsdirektiven standhalten usw.

Man hätte auch eine näher liegende Studie (unter Daniel Frey) ernst nehmen können, die die Arbeit und Gesundheit der stadtzürcher LehrerInnen untersucht hat. Sie kommt zum Schluss, dass 40% davon sich psychisch belastet fühlen und jede vierte Klassenlehrperson unter Erschöpfung und Energielosigkeit leidet. Das stand aber schon im «Tagi», und damit wäre auch die angepeilte These im Eimer gewesen, dass nämlich die LehrerInnen und Lehrer wegen Mittelmässigkeit und mangels «gefestigter Persönlichkeit» ins Burnout laufen und man solche Kandidaten einfach «frühzeitig aussieben» müsse, um das Problem zu lösen (Zitate Hans Fehr, SVP). Aber ich will über solchen Pfusch nicht allzu streng urteilen – denn rein statistisch gesehen ist wahrscheinlich auch die Belegschaft der Pendlerzeitungen nur Mittelmass. Willkommen im Club!