Simulacron-3 …

… heisst einer meiner Lieblings-Science-Fiction-Romane (geschrieben 1964 von Daniel F. Galouye, verfilmt 1973 von R. W. Fassbinder als «Welt am Draht»): Ein Institut für Kybernetik hat zu Marktforschungszwecken einen Supercomputer entwickelt, mit dem Menschen in eine elektronisch simulierte Stadt «hinabsteigen» und mit den dortigen, belebten und bewussten «Identitätseinheiten» interagieren können. Mit der Zeit bestätigt sich aber aufgrund unerklärlicher Vorgänge ein schrecklicher Verdacht: Ihre eigene Welt ist ebenfalls nur Simulation! Zwei Hauptfiguren schaffen es schliesslich, ihre Programmierer zu überlisten und sich in die wirkliche Welt hoch- bzw. zurückzubeamen.

Seither boomt das Thema der computergenerierten Gegenwelt: Fiktionen von  biologischer oder informationeller Existenz in den Datenströmen der virtuellen Realität (von «Newromancer» über «Max Headroom», «Tron» und «Matrix» zu Meta-Universen in Games wie «Second Life» etc.), aber auch die reale Allgegenwärtigkeit von Social-Media-Netzwerken prägen unsere Kultur. Während wir gebannt auf die perpetuellen Erneuerungen aus dem Cyberspace starren, entgeht uns vielleicht etwas anderes: Nämlich wie durchdringend bereits das Paradigma der Kybernetik unseren gesamte, nicht-fiktionale Gesellschaft prägt.

Oder praktizieren Sie nicht auch Selbstmanagement und kreative Problemlösung? Fokussieren Sie aufs Wesentliche, fällen informierte Entscheide, planen vorausschauend? Nutzen Sie Feedback, Synergien, Kompetenzen, Prozesse, Systeme? Haben Sie Selbstvertrauen und Durchsetzungskraft? Sind Sie bereit, motiviert, zielstrebig, willensstark, im Gleichgewicht? Das sind jedenfalls alles Elemente kybernetischer Steuerungs- oder Regulierungsmechanismen. In kybernetischen Systemen werden aufgrund von rückgekoppelten Informationen Differenzen erkannt und (durch Individuen oder Maschinen) Anpassungen vorgenommen. So funktioniert insbesondere unsere Marktwirtschaft. Mehr noch: Gemäss dem französischen Autorenkollektiv Tiqqun (2001) «… wird der Markt zum Instrument der vollkommenen Koordinierung der Akteure, dank derer das gesellschaftliche Ganze ein dauerhaftes Gleichgewicht findet. Der Kapitalismus wird hier unanfechtbar, da er als ein schlichtes Mittel, als das beste Mittel präsentiert wird, um die gesellschaftliche Selbstregulierung zu produzieren.» Da brauchen wir als Richtschnur des Lebens keine Dialektik und keine religiöse Fügung mehr, weder Schicksal noch Karma, kein Kollektiv und keinen Führer, weder Ethik noch Gerechtigkeit. Essenziell ist nur, dass wir auf Informationen ansprechen. Jedoch ist es nicht nötig, dass wir umfassend und ganzheitlich informiert sind. Eine gewisse Zufälligkeit unserer Entscheide ist sogar Bedingung. Denn nur dank dieser so genannten «Kontingenz», die die Möglichkeit eines Scheiterns, einer Variation, einer Verbesserung in sich birgt, bleiben wir aktiv und für neue Reize empfänglich. (So erkläre ich mir auch die Aufhebung des Euro-Mindestkurses: Niemand weiss, wozu oder wieso, sie bringt aber Bewegung in die Sache.)

Im Konzept der kybernetischen Selbstregulation ist auch Autorität, die zum Beispiel «die Erziehung in die Hand nimmt, (…) nicht mehr von Bedeutung oder unerwünscht, da sich Kinder frei und selbstständig zum Individuum entwickeln bzw. selbst herausfinden, wie sie sich in der Welt zurechtfinden» (Wikipedia). Wo Antiautorität systemkonform bzw. obsolet ist und wo erkennbare Autorität verschwindet, wird Widerstand schwierig: Wo hockt der Gegner? In mir drin?

Das fasziniert mich so an «Simulacron-3»: Was, wenn die Flucht gar nicht in die Freiheit, sondern nur in ein neues, viel raffinierteres kybernetisches Steuerungssystem führte? Gliche dieses dann nicht aufs Haar unserem Alltag?