Von Insulanern

Letzthin lauschte ich im Restaurant der Konversation zweier Schweizer. Es ging um Zypern. Der eine: «Ja, jetzt müssen sie halt den Gürtel enger schnallen.» Der andere: «Schon hart. Aber die haben einfach über ihre Verhältnisse gelebt.» Ich musste mich gar nicht umdrehen, um die Feistheit des Geldsacks zu bemessen, aus dem diese Stimme sprach. Ohne Worte verriet sie seine Verhältnisse: Offroader. Häuschen. Smartphone. Golfclub.

Ich bezahlte und trat vor die Tür. Da gondelte zufällig ein Velofahrer heran, den ich gleich erkannte, obwohl ich ihn zehn Jahre nicht gesehen hatte. Ich rief seinen Namen und war erstaunt, dass der prompt funktionierte, nach so langer Zeit. Der alte Bekannte stieg vom Rad, und wir setzten uns vors Volkshaus; er hatte viel zu erzählen, denn er war Ende der neunziger Jahre nach Athen ausgewandert, war ein viel gebuchter Fotograf geworden und hatte eine Familie gegründet. Die Seinen vermisst er nun sehr, denn er ist nicht gerade freiwillig hier. Ein Jahr lang versuchte er zu pendeln, hier zu verdienen und dort zu leben. Aber es ging nicht auf: zeitlich, finanziell, emotional. Nun will er den Nachzug organisieren, nolens volens.

Denn in Griechenland sei kein Auskommen mehr, für Freischaffende schon gar nicht. Er würde alles tun – putzen, Strassen wischen. Aber es gebe keine Jobs. Wer einen habe, klammere sich daran, obwohl man auf die Löhne lange warten müsse. Irgendwann komme wieder einer oder ein halber oder auch nicht. Die Arbeitslosenquote, offiziell bei 26%, ist in Wirklichkeit doppelt so hoch. Aber viele Griechen waren bis zur Krise selbstständig mit irgend einer kleinen Bude und fallen nun aus der Statistik. Im öffentlichen Dienst wurde radikal gekürzt. Auch seine Schwiegermutter traf es hart: Als Lehrerin wurde sie mit 60 zwangspensioniert. Die vorgesehene Kapitalauszahlung wurde ersatzlos gestrichen. Sie erhält eine winzige Rente, aber erst in zwei Jahren… Wie kann ein Volk so leben?, frage ich. Man bezahle immer nur das Dringendste. Etwa den Strom, weil der sonst abgestellt würde. Ab und zu eine Miete. Man wartet, bis jemand mahnt. Man wurstelt sich durch. Man geht …

Das Klischee der Faulheit macht den Emigranten-wider-Willen ratlos. Es könne nur dem Neid entspringen, sinniert er, vielleicht weil bei ihnen immer die Sonne scheine oder weil die Griechen so lebenslustig seien und oft auswärts essen. Trotzdem werde hart gearbeitet. Das Modell «Teilzeitjobs und daneben Selbstverwirklichung» kenne man gar nicht. Gadgets, Ferien, Schickimicki: Sowas gebe es kaum. Wohl treffe es zu, dass Steuerumgehung verbreitet sei. Man habe die Wahl, Rechnungen unversteuert oder mit rund 80 Prozent Steueraufschlag zu bezahlen. Was sollte man da tun, wenn das Geld knapp ist: Einfach nicht zum Zahnarzt gehen? Das WC nicht reparieren lassen? Eine Zeitlang habe es sogar eine breite Volksbewegung fürs Steuerzahlen gegeben. Als jedoch bekannt wurde, dass die Gattin des letzten Premiers 600 Millionen Euro auf einem Schweizer Konto habe, sei die Wut gross und die Luft draussen gewesen. Es sei zudem ein offenes Geheimnis, dass vom so genannten Rettungsschirm vor allem Deutschland profitiere: Damit würden zuerst deutsche Waffen bezahlt, da Griechenland nicht aus einem entsprechenden Vertrag zurücktreten dürfe.

So redeten wir lange, und ich wusste keinen Rat. Aber ich dachte: Sind nicht eher wir die trägen Insulaner? Wann wird uns der Gürtel enger geschnallt?