Ein Kind kommt in die Schule. Nun ist es auf der Bahn, die es früher oder später unweigerlich ins Leben hinaus katapultieren wird. Es wird viele Dinge lernen. Lesen, rechnen, schreiben. Wettbewerb und Noten. Turnen, singen, schwimmen. Teilen, helfen, Freundschaft schliessen. Geometrie, Biologie, Geografie. Still sitzen, sich durchsetzen, sich unterordnen. Nähen, basteln, zeichnen. Mogeln, mobben, petzen. Deutsch, Englisch, Französisch. Aufpassen und aufstrecken. Kochen, Physik, Chemie. Langeweile und Überforderung, Erfolg und Versagen, Stolz und Scham.
Es wird auch viele Dinge verlernen. Es wird keine Tannzapfen mehr sammeln. Es wird nicht mehr aus vollem Halse weinen. Es wird nicht mehr ohne Unterlass vor sich hinplappern und -singen. Es wird sich nicht mehr im Dreck wälzen. Es wird keinem toten Käfer mehr nachtrauern. Es wird sich nicht mehr weigern, zu baden. Es wird kein Gutenachtlied mehr hören wollen. Es wird keine rührend plumpen Lügen mehr auftischen. Es wird die Erwachsenen nicht mehr bewundern.
Und wann ist das Kind erwachsen? Wenn es für sich selbst sorgen kann. Wenn es sich um andere kümmert. Wenn es mitbestimmen kann. Wenn es seine Grenzen kennt. Wenn es seinen Platz gefunden hat. Wenn es arbeiten geht und Geld verdient. Wenn es selber entscheiden kann. Wenn es keine Flausen mehr hat. Wenn es seine Lebensträume verwirklicht. Wenn es sich um die Welt kümmert. Wenn es für seine Rechte kämpfen kann. Wenn es Militär macht. Wenn es Kinder kriegt, für die es sorgt. Wenn es Auto fährt. Wenn es sich politisch engagiert. Wenn es ordentlich konsumiert.
Vielleicht wird es seiner Kindheit nachtrauern. Es wird vielleicht die Welt der Erwachsenen ablehnen. Es wird dann vielleicht immer jung bleiben wollen. Oder es wird vielleicht supercool sein wollen, grossartig, hart und stark. Es wird möglicherweise aussteigen wollen. Es wird vielleicht in einer Unterhundrolle resignieren – oder zum unzimperlichen Überflieger werden. Es wird vielleicht sogar überhaupt nicht mehr leben wollen.
Bleibt die Hoffnung, dass das Kind Leitfiguren findet, die integer und zahlreich sind: Ich und du; er/sie/es, wir, ihr, sie. Der Papi, der Götti, der Nachbar, der Lehrer. Die Mama, die Tante, die Oma, die Hortfrau. Das Radio, das Fernsehen, das Internet. Wir Künstlerinnen und Journalistinnen, ihr Informatiker und Buchautoren, die älteren Kinder, die Eltern der anderen, die Kinderlosen. Menschen, die dem Kind eine Lebensphilosophie vermitteln können. Die an das Gute in jedem Kind glauben. Die ihm Perspektiven geben. Die ihm Verantwortung übertragen. Die ihm erlauben, ein Kind zu sein. Die es ermutigen, erwachsen zu werden. Die ihm Möglichkeiten und Grenzen vorleben. Die zulassen, dass das Kind es besser weiss. Die mit ihm philosophieren. Die mit ihm Freude am Tiefsinn im Unsinn haben und Spass am Ernst.
So wird das Kind über uns hinauswachsen. Es wird uns überleben. Es wird sich nicht mehr erinnern. Und doch wird es uns vergelten. Es wird mit gleicher Münze bezahlen. Vielleicht wird es statt äusserlich ewig jugendlich innerlich immer ein wenig kindlich bleiben: Mitleid empfinden und Reue, ein grosses Herz haben und mit jeder Kreatur fühlen.