Provinz im Kopf

In den Ferien hatte ich ein Déjà-Vu. Denn ich hatte viel Zeit, um vom Lande kommend ziellos in der Stadt herumzustrolchen. Und ich war ja schon einmal so ein richtiges Landei gewesen. Mir persönlich war das damals nicht bewusst, was aber gerade ein bestimmendes Merkmal für Landeier ist. Man kommt in die Stadt und denkt: Also, ich bin im Fall auch nicht blöd, obwohl ich vom Land komme. Dass du blöd bist, weil du vom Land kommst, denken viele StädterInnen gar nicht aktiv (ausser du fährst ihnen mit einer Aargauer-Nummer, röhrendem Auspuff und dröhnendem Soundsystem auf dem Zebrastreifen gerade knapp nicht über die Zehen; wobei die Aargauer Nummer natürlich Zufall ist – es gibt ja auch ZH-Deppen.) Es ist nur so, dass sie sich einfach nicht an dich erinnern können, etwa die ersten zwanzig Mal, wenn du ihnen spontan begegnest, während das Landei noch mit einer rührenden Neugierde auf die vielen Menschen in der Stadt zugeht und sich überdies deren Nasen, Namen und Beschäftigungen ohne Mühe merken kann. Bei mir ging das jeweils so: Mit City-Guide (Bekannter, der schon vor zwei Monaten in die Stadt zog und dort bereits die halbe Welt kennt) am Arm auf die neue Bekanntschaft von gestern zugesteuert; die beiden einander herzlich begrüssend, küssend, kurz plaudernd, dann «Also man sieht sich, tschüss zäme!». Beim Tschüss bekam ich jeweils den ersten, flüchtigen Blickkontakt. Ich habe in meiner Phase der Tsüri-Initiation viel Übung erlangt in Beschäftigungen, die man sich so zulegt, wenn man gerade unsichtbar ist, also etwa Dauergrinsen, Kopfnicken und am richtigen Ort Mitlachen; Zigaretten und Feuer anbieten; untere Hälften von Personen studieren; Augen auf Unendlich fokussieren und im Kopf Studieninhalte repetieren – oder über Zwischenmenschliches sinnieren.

Dabei hatte ich nicht den Eindruck, ich sei gerade von der bornierten Provinz in die aufgeschlossene Stadt gezogen. Dass die coolen Menschen alle in der Stadt wohnen und die bünzligen alle auf dem Land, würde ich so also nicht unterschreiben – auch nach zwanzig Jahren City-Life und Rückkehr aufs Land nicht. Umgekehrt natürlich auch nicht. Einige StädterInnen haben sich aktiv fürs Stadtleben entschieden und finden drum die zurückgebliebenen Landeier doof, und einige LändlerInnen haben sich aktiv fürs Dableiben entschieden und finden drum vielleicht die Stadt-Hysterie nervig. An szenigen Orten in der Stadt treffe ich heute noch auf Leute, die sich gegen Unbekannte zwanghaft abschotten müssen mit ihrer selektiven (Un)freundlichkeit. Im Xenix zum Beispiel kann man gute Filme sehen, nette Leute treffen und hübsch draussen sitzen – aber es ist notorisch unmöglich, von einer Barbedienung, deren Namen man nicht kennt, zum Bier ein Lächeln zu bekommen. Das ist etwa gleich provinziell, wie wenn die Verkäuferin hier im Dorfladen alle vor mir nett begrüsst, um bei mir den Gesichtsausdruck «Deep Freeze» aufzusetzen, weil ich halt neu bin hier.

Schön, wenn man sich in einem Soziotop bewegt, in dem man mit fast allen per Du ist. Noch schöner, wenn man den Schwyzergärtli-Zaun darum herum nicht allzu eng steckt!