Lieber Hr. Largo!

Von Ihren Erziehungsbüchern bin ich sehr begeistert. Denn ich hatte immer den Eindruck, Sie sprächen von Menschen, und nicht in erster Linie von Männern und Frauen. Was in hiesigen Breitengraden lange Zeit unbestritten war – nämlich, dass Mädchen einfach dümmer sind als Knaben – haben Sie nie unterstützt. Sie lieferten keine Rechtfertigung dafür, dass Mädchen im Direktvergleich mit Knaben meist schlechter abschnitten. Sie fanden in Ihren Untersu­chungen bei den Mädchen kein gemütvolleres Wesen, das nur gerade für Kinderaufzucht reiche, keinen Mangel im logisch-abstrakten Denkvermögen, keine verminderte Leistungs­fähigkeit wegen Hormonen und weiblichem Zyklus, und Sie sahen sie nicht wegen fehlendem Kampf- und Pioniergeist vor allem zuhause am Herd. Gerade weil aus Ihren Büchern die pure Menschlichkeit sprach, und nicht das Klassendenken mit einem herrschenden und und einem dämlichen Geschlecht, habe ich sie alle gekauft.

Auch Ihr neustes Buch («Schülerjahre: Wie Kinder besser lernen») spricht mir auf weiter Strecke aus dem Herzen. Mädchen und Knaben bräuchten zum erfolgreichen Lernen vor allem Vertrauen – in sich selbst, zu Bezugspersonen, zu Gleichaltrigen. Altersadäquate, kindgerechte Lernangebote und selbstmo­tivierender Unterricht begründeten soliden Lernfortschritt, und nicht Drill oder Über-Förderung. Umso mehr erstaunt die Klammer – Prolog und Schluss – um Ihr weises Werk, worin ohne Zusammenhang zu Ihren übrigen Befunden eine Diskriminie­rung der Buben beklagt wird, weil sie nurmehr 40 Prozent der Gymnasiasten stellten. Denn Knaben seien gleich intelligent wie Mädchen und müssten auf 50 Prozent kommen. Die Mädchen brillierten bloss wegen ungesunder Überangepasstheit, und darum müsse die Schule wieder bubengerechter werden – mit mehr Handwerk, Technik und Bewegung.

Aber: Kann man wirklich von Knaben-Diskriminierung reden, wenn gerade erst die frauendiskriminierenden Lehrmittel abgeschafft wurden? Wenn man das lange mit Füssen getretene Selbstvertrauen der Mädchen etwas aufpäppelt? Wenn man ihre selische und körperliche Integrität vor (männlichen) Übergriffen schützt? Wenn man ihnen im Unterricht nichts weiter als gleiche Chancen, gleiche Lerninhalte und gleiche Sprechzeit zugesteht? Seltsam auch, dass Sie nur die Mädchen negativ qualifizieren: «Überangepasst» – geht das überhaupt im Bezug auf Schule? Wo doch die Evolution der Menschen zentral auf Lernen und Anpassung gründet …

Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass das männliche Selbstbild der akademischen Leistungsfähigkeit abträglich ist? Vielleicht begründete ja gar nicht «typisch männliche Überlegenheit» mit Wildheit, Pioniergeist und Dominanz die Führungsrolle, sondern schlicht Wettbewerbsverzerrung durch Frauenverbot. Möglicherweise hindern solche archaischen Vorstellungen die Knaben immer noch daran, ihre intellektuellen Fähigkeiten voll zu entfalten.

Um die Mädchen ist mir nicht bange. Die Geschichte zeigt: Keine Anforderung ist zu hoch, um von Mädchen gemeistert zu werden – wenn man sie ranlässt. Die Schule soll den Schwerpunkt auf Bewegung, Technik und Handwerk legen. Sie wird sportlich, technisch und handwerklich beschlagene Mädchen hervorbringen. Den Knaben aber einfach wieder Sonderrechte einzuräumen, wäre in meinen Augen ein gesellschaftliches Armutszeugnis.