Stereotypen

Kürzlich war ich an einer Tagung über sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen. Fachleute aus der Bubenarbeit, der Gleichstellung und der feministischen Theorie erörterten in erstaunlicher Einhelligkeit die Ursachen.

Als Hauptursache gilt das männliche Geschlechterrollen-Stereotyp. Knaben müssen immer überlegen sein – obwohl die Mädchen früher entwickelt und oft stärker sind. Den Buben wird mehr Aggression und weniger Empathie zugestanden; «echte» Männer kennen keine Grenzen. Ihre Rollenmuster sind grösstenteils negativ. Die Knaben glauben zum einen, die in Filmen, Werbung und Games gezeigte blöde Anmache und übergriffige Sexualität führe beim andern Geschlecht zum Erfolg. Zum andern bieten verbale und physische Sexismen rasch und sicher die ersehnte Überlegenheit über die gedemütigte und entwürdigte Adressatin.

In der Pubertät sacken die Knaben moralisch (oder ethisch, wenn Ihnen das lieber ist) ab. Wer sich an Regeln hält, gilt als Bubi. Ganz allgemein fehlen verbindliche, prägende Beziehungen zu positiven männlichen Vorbildern. An der Tagung hat niemand die Forderung erhoben, zur Abhilfe die Überzahl an professionellen weiblichen Bezugspersonen – namentlich Lehrerinnen – durch Männer zu ersetzen. In den Medien, unter Eltern und an der Schule hört man sie aber oft.

Bloss: Die Geschlechtersozialisation findet nicht im Unterricht statt. Sie ist nicht Aufgabe der LehrerInnen, sondern der Eltern. Zu Hause sehen die Kinder täglich Live-Interaktionen zwischen Mann und Frau. Da erleben sie direkt, ob die Eltern ihnen als Bruder und Schwester gleiche Rechte und Pflichten zumessen, ob sie einander für ebenbürtig gelten oder nicht. Sie erfahren, wie ein Mann und eine Frau miteinander umgehen, wie ihr Alltag aussieht – vom Abwasch über Rasur und Menstruation bis zu Streit und Zärtlichkeit. Hier erlernen Kinder den Stellenwert von Haushalt- und Erwerbsarbeit, Puppen, Fussball, Schminke und Auto. Hier sind die Männer gefragt.

Lehrer und Lehrerinnen können kaum Geschlechtersozialisation bieten. Eine Lehrerin war nie ein empfundener Teil des Selbst, so wie es die Mutter für das kleine Mädchen war, bis es sein Ich kennen lernte. Kein Knabe wird je denken, dass er später einmal die Frau des Lehrers heiraten und nach dessen Tod seinen Töff erben werde. Dafür ist die Bindung zuwenig intim und intensiv. Lehrpersonen sind natürlich auch Rollenvorbilder, allerdings für andere Lebensaspekte, wie: Berufsarbeit, Führungsverhalten, Integrität, Zynismus, Reife, Weisheit, Fürsorge, Gerechtigkeit, Selbstherrlichkeit usw. All dies können Mädchen und Knaben in gleichem Masse von Männern und Frauen lernen. Es ist auch gut, wenn Knaben Lehrerinnen haben, die geschickt lenken. Und ebenso, wenn Mädchen Lehrer haben, die empathisch sind.

Nun eine Lehrerquote einzuführen, bleibt so lange ein schlechter Witz, wie die Geschlechtergerechtigkeit in allen übrigen Berufen noch im Argen liegt. Erst seit hundert Jahren dürfen Frauen studieren – und zwar Jahrzehnte lang nur Lehrberufe! Gewalt fördernde Geschlechter-Stereotypen können wohl kaum durchbrochen werden, indem man Frauen von ihrem hart erkämpften beruflichen Territorium verstösst.