Zynisch

In was für einem Land leben wir eigentlich? In einem Land, das im Kopf und im Herzen so armselig ist, dass es nicht einmal jenen unter die Arme greifen will, die sich für die Schwächsten der Gesellschaft – für behinderte Kinder – Tag und Nacht aufopfern. So hat sich also die IV höchstrichterlich bestätigen lassen, dass sie nichtmedizinische Spitex-Pflege für Kinder, die von Geburt an schwerbehindert sind, nicht mehr bezahlen muss. Eltern können schliesslich selber 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr ihr behindertes Kind überwachen, füttern, wickeln, anregen, massieren, bewegen, abklopfen usw. Sie brauchen ja keine weiteren Kinder, Hobbys, Pausen, Ferien oder Schlaf.

Die IV betont, es handle sich nicht um eine Sparmassnahme. Das ist erstaunlich. Denn die IV wollte nichtmedizinische Spitex-Pflege für ein schwerstbehindertes Kind nicht bezahlen, weshalb der Fall bis vors Bundesgericht kam. Ist ja einerlei, ob das Geld am Ende nicht bezahlt oder aber gespart wird. Natürlich ist der Spareffekt von weniger als einem Promille läppisch – aber welches treffendere Motiv könnte hinter dieser Übung stehen?

Zweiklassengesellschaft? Wer Pflegepersonal aus dem eigenen Sack bezahlen kann, ist natürlich fein raus. Knochenarbeit rund um die Uhr wird delegiert, da bleibt Zeit, um die schönen Stunden mit dem behinderten Kind unbeschwert zu verbringen. Alle andern: Pech gehabt! Hauptsache, es wird gesetzeskonform gehandelt.

Mehr Heimeinweisungen? Natürlich werden die Eltern nicht im Regen stehen gelassen. Schliesslich trägt die Versicherung das edle Attribut «sozial». Wer ohne Spitex unter der täglichen Last der Pflege zusammenklappt, gibt sein Kind einfach ins Spital oder in ein Heim. Das ist natürlich teurer als die punktuelle Entlastung zuhause. Aber hey, dort arbeiten geduldige und kompetente Betreuerinnen im Schichtwechsel, also immer ausgeruht. Dem Kind mangelt es an nichts – ausser an der Nestwärme seiner nächsten Bezugspersonen. Aber wer will denn schon so sentimental sein…

Mehr pränatale Diagnostik? Spitäler und Pharmafirmen werden sich freuen, wenn Eltern aus Angst vor der Überforderung mit einem Geburtsgebrechen nun alle möglichen Tests durchlaufen. Willige Klientel, planbare Einsätze – lockere und problemlose Arbeit! Und erst noch im Dienste der Allgemeinheit (spätere Heimeinweisung vermeiden).

Mehr Abtreibungen? Früherkennung ist natürlich sinnlos, wenn beim Positiv-, also Negativbefund nichts unternommen wird. Da gleichzeitig bürgerliche Bestrebungen im Gange sind, die Abtreibung aus der Grundversicherung zu nehmen, ist das auch eine super eigenverantwortliche Lösung! Denn der Gesellschaft bleibt viel Leid und viel Mühe erspart.

Mehr Frauenarbeit zum Gotteslohn? Wohl gibts natürlich auch Menschen – es handelt sich meist um Mütter –, die in ihrer Affenliebe derart einem Kinde anhängen, dass sie lieber zuhause hocken und ihr Schwerbehindertes selber pflegen, als wieder arbeiten zu gehen. Nun denn! So schlecht ist das auch nicht; dann gibt’s weniger Teilzeitstellen und mehr Jobs für Männer. Da gesundet immerhin die Wirtschaft!

Sie finden das zynisch? Ich auch.