Jugend kürzen?

Seit einigen Jahrzehnten wird ja das Verschwinden der Kindheit beobachtet, mit ganz unterschiedlichen Erklärungen: Weil die Erwachsenen sich in ihrem Jugendlichkeitswahn infantil gebärdeten, müssten sich die Heranwachsenden von der Jugend abgrenzen, wurde etwa spekuliert. Oder die Konsumgesellschaft bombardiere die Jugend mit Kaufreizen und wecke in ihnen frühzeitig den Drang nach erwachsener Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Oder umgekehrt wird argumentiert, dass die ausgedehnte Kindheit als Erfindung des Bürgertums eine ungesunde Entwicklung war und jetzt in einer Art Backlash auf eine natürlichere Dauer gesundgeschrumpft wird.

Ist es ein Zufall, dass gleichzeitig keine Altersgruppe medial so desavouiert wird wie die Jugend? Ich ärgere mich zwar auch über pöbelnde Teenies, finde ihr Verhalten aber nicht grundsätzlich anders als jenes vieler Erwachsener. Vielleicht verschwindet die Kindheit gar nicht, sondern wird wegen mangelnder Rentabilität abgeschafft?

Das Jugendalter ist ja nicht aus Bequemlichkeit der Jungen immer länger geworden. Es ist auch nicht primär ein Schonraum, ein imaginäres Laufgitter für noch nicht ganz fertig Herangewachsene. Sondern die Gesellschaft hat sich das hehre Ziel gesetzt, aus jedem einzelnen Mitglied einen gebildeten und mündigen Menschen zu machen. Das braucht Zeit (und Geld). Man stelle sich vor: Früher mussten Mädchen mit zwölf alles können, um den Haushalt zu führen. Knaben mussten mitverdienen. Schulbesuch und Berufsbildung waren zweitrangig bzw. inexistent. Seither ist das gesellschaftlich notwendige Wissen immer grösser geworden, auch das Leben an sich wird immer komplexer – was man etwa am Verschwinden unqualifizierter Arbeit sehen kann.

Der notgedrungen verlängerten Ausbildungszeit steht die Natur der Menschen gegenüber. Irgendwann in der Pubertät haben sie keine Lust mehr, sich unterzuordnen – es zieht sie vom behüteten Familien- und Schuldasein weg in die Selbstbestimmung. Aber die gibt’s nicht. Die Jugendlichen sind konfrontiert mit der schizophrenen Anforderung, sich über die geistige und körperliche Reife hinaus kindlich den Bildungsanforderungen unterzuordnen. Gleichzeitig sollen sie sich erwachsen benehmen und selbstverantwortlich handeln – aber nicht da, wo sie es wollen, sondern da wo es die restliche Gesellschaft am wenigsten stört und auch so, dass es keine Kosten verursacht.  Gleichzeitig wächst die Menschheit – und der auch zahlenmässig wachsenden Gruppe Jugendlicher mit ihrem Selbstverwirklichungsdrang stehen stetig schrumpfende Gestaltungsfreiräume gegenüber. Wir alle hatten damals wesentlich mehr Platz als die heutigen Kinder und Jugendlichen, die in einer Art Käfighaltung aufwachsen – weil ihre natürlichen, «artgerechten Nischen» zunehmend von Verkehr und Kommerz usurpiert werden.

Die Lösung liegt selbstverständlich nicht im Zurechtstutzen der Jugend. Ich jedenfalls bin überzeugt, dass die verlängerte Kindheit trotz ihrem inhärenten Dilemma wesentlich zu unser aller Wohlstand beiträgt – und dass wir unsere Energie darauf verwenden sollten, eine gesellschaftliche Realität zu schaffen, in der auch die Jugendlichen ihrer Jugend einen Sinn abgewinnen können!