Kapitalismus überwinden

Im gegenwärtigen Parteiprogramm der SP steht die Forderung, den Kapitalismus zu überwinden. Als ich das erfuhr, war ich zugleich erstaunt und erfreut. Lange Jahre war es unmöglich, Kapitalismuskritik zu üben, ohne in die Ecke des menschenverachtenden Totalitarismus kommunistischer Regimes gestellt zu werden. Auch die SP musste nach dem Krieg dem Sozialismus abschwören, um als staatstragende Partei anerkannt zu werden. Im hochgeschaukelten Kampf von Ost gegen West durfte es weder Nuancen noch Alternativen geben. Der Westen sah sich als das gelobte Land der Freiheit; wer im Osten unter einer Diktatur litt, tat dies erst recht. Ganz allgemein wird der grosse zivilisatorische Fortschritt, unsere hohe Lebensqualität, unser Komfort und Luxus vollumfänglich dem allein seligmachenden freien Markt zugeschrieben. Dass er – vor allem in seiner heutigen reinen Doktrin des Neoliberalismus – auch für sämtliche Kehr- und Schattenseiten mitverantwortlich ist, wird immer noch gerne geleugnet.

Das zeigt sich deutlich bei Ländern, die erst gerade die Schwelle von der kommunistischen Planwirtschaft zur «freien» Marktwirtschaft überschritten haben. Etwa in China, Provinz Guangdong. Das Dorf Wukan wird von den Behörden zwecks Aushungerung belagert, nachdem die Polizei von der aufgebrachten Bevölkerung vertrieben wurde. Anlass dazu war der Tod von Xue Jiandi, einem unbescholtenen Einwohner, der mit den Behörden über die Abtretung von Land verhandeln sollte, aber schliesslich in Polizeigewahrsam starb. Gegenstand des Streits waren Enteignungen von gemeinschaftlich genutztem Agrarland, das von korrupten Regionalbehörden an ein Immobilienunternehmen verkauft worden war – ohne Abgeltung der Bauern. Nun kann man das als typische Machenschaften totalitärer Staaten werten, wie das viele Medien tun. Man erfährt aber auch (z.B. auf dem AFP-Newsportal), dass der illegale Verkauf von Gemeindeland seit Beginn des Wirtschaftsbooms in den 90er Jahren eine der wichtigsten Ursachen für lokale Konflikte in China ist und dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten in China 50 Mio. Bauern ihr Land verloren haben. Die 90er-Jahre markieren aber just den Zusammenbruch des Kommunismus und den globalen Durchbruch des schrankenlosen Finanzkapitalismus.

Wir beobachten also genau jene kapitalistische Landnahme, die «primitive Akkumulation» von Produktionsmitteln, die Marx vor über hundert Jahren beschrieben hat. Dass der Kommunismus totalitären Zuschnitts auch nicht ohne sie auskam, macht die Sache nicht besser. Dass es mit einer ursprünglichen Enteignung dann wenigstens getan sei und alle vom nachfolgenden Wohlstand profitierten, bestritt schon Rosa Luxemburg ebenfalls vor bald hundert Jahren und brachte zahllose Beispiele bei, wie das kapitalistische System mit Unterstützung der Staatsmacht permanent auf Raub und Enteignung aus ist, um via Profitabschöpfung die Umverteilung nach oben am Laufen zu halten. Konnten ein paar Jahrzehnte lang breite Schichten Nutzniesser dieser Ausbeutung sein, an das Perpetuum Mobile ewiger Gewinnvermehrung glauben und die Verlierer im System für selber Schuld halten, so bröckelt dieser Irrglaube heute langsam. Es mag uns dämmern, dass das globalisierte Kapital sein Substrat nicht zwingend immer am andern Ende der Welt aussaugt. Gut, dass die erstarkte Linke in der Schweiz hier Denkverbote verhindert!