Menschenwürde

Zum Ersten Mal seit es den Paul-Grüninger-Preis gibt, ging er im November 2011 an eine Preisträgerin in der Schweiz. Das erstaunt vielleicht noch nicht, wir sind es ja gewohnt, in der Welt als humanitäre Retter dazustehen. Erstaunlicher ist doch die Tatsache, dass ihn Daniela Strinimann-Gemsch für Aktivitäten in ihrem eigenen Dorf erhielt. Offenbar braucht es in der Schweiz «besondere Menschlichkeit, besonderen Mut und besondere Unvoreingenom­menheit» – so der Stiftungszweck des Preises – um mit Asylbewerbern in freundnachbarschaft­­lichen Kontakt zu treten. Denn im Asylwesen zieht man weiter die Daumenschrauben an. Schikaniert werden nun offenbar nicht mehr nur die Insassen der unsäglichen Nothilfe- oder Ausreise-Zentren – kriminalisiert wird auch, wer aus purer Menschlichkeit deren Käfighaltung durchbricht. So auch Mitglieder des Vereins «Miteinander Valzeina», für den Stirnimann-Gemsch stellvertretend den Preis entgegennahm.

Wir erinnern uns: In Valzeina, auf 1200 m oben und abgeschieden von aller Welt leben achtzehn Männer und drei Frauen in fünf Zimmern, zum Teil schon seit vier Jahren. Es gibt zuwenige sanitären Anlagen, keinen Aufenthaltsraum, keinen Tisch im Zimmer, kein Telefon, keinen Fernseher (oder wenn einer gespendet wird: keine Schweizer Sender), kein Internet, keine Beschäftigung, kein Geld, Besuch nur auf Voranmeldung und nicht im Zimmer drin. Zwar hätte das Haus weitere Zimmer, auch Bäder, WCs, Schränke – aber sie werden absichtlich geschlossen gehalten. Die Migros-Budget-Diät ist eintönig, es gibt kein Brot und wenig Frisches. Zwanzig Leute teilen sich zwei Kochherde, Nachts ist die Küche geschlossen. Privatsphäre gibts nur draussen, aber für den Aufenthalt im Freien fehlen warme Kleider und Schuhe. Nur Montags bis Freitags von 10 bis 11.30 Uhr darf man um einen Arzt- oder Zahnarzttermin ersuchen und nur zweimal wöchentlich mit der Essensausgabe um Kleider bitten – und wird meistens lange vertröstet, oder abgefertigt à la: «In Afrika ist es warm, dort bräuchtest du keine Winterkleider…». Arztkosten werden nur nach zermürbendem Betteln erstattet. Ohne Geld ist der Bewegungsradius gleich null.

Wer beide Augen zudrücken wollte, konnte das noch unter dem Titel des Sparens tun. Aber dies? Dies wohl nicht: Familien werden in verschiedene Zentren und dort auf verschiedene Zimmer aufgeteilt, aus nichtigen Anlässen ergehen Verbote, die Gemeinde zu verlassen oder unbedingte Gefängnisstrafen wegen Übertretungen solch absurder Regeln. Ein geschenktes Zeitungsabo wurde von der Heimleitung abbestellt. Wer mit den Abgewiesenen Kaffee trinkt oder sie im Auto mitfahren lässt, wird von der Polizei der «Förderung von illegalem Aufenthalt» beschuldigt und löst zusätzliche Schikanen gegen die Insassen aus.

Der «Verein Miteinander Valzeina», die «Beobachtungsstelle Fokus Asyl GR» und Daniela Stirnimann-Gemsch nehmen das nicht hin. Die Preisträgerin tourt durch die Medien und rückt Moderatoren wie Politikerinnen sachlich aber bestimmt die Brille zurecht: Nicht die vielbeschworenen diffusen Ängste der Bevölkerung brauchen Beachtung. Sondern die Tatsache, dass mitten in der Schweiz, vor unseren Augen und sogar mit unserer Hilfe eine menschenun­würdige Parallelgesellschaft der Geächteten errichtet werden soll. Nehmen wir uns ein Beispiel an dieser unverrückbaren Mitmenschlichkeit. Nicht zuletzt geht es um unsere eigene Menschenwürde!