Ungezählte Opfer

Es ist immer irgendwo Krieg auf der Welt, und laut historischer Forschung im Verlaufe der Jahrhunderte immer öfter und mit immer zahlreicheren Beteiligten und Toten. Der «Blick am Abend» greift einen besonderen Aspekt des Krieges heraus, den das libysche Regime gegen sein Volk führt: Vergewaltigungen von unbeteiligten Frauen und Mädchen als gezielte Kriegshandlungen. Ich finde es verdankenswert, dass eine Zeitung dies überhaupt berichtet. Trotzdem bedarf es einiger Kommentare. Roman Neumann schreibt, die Greueltaten seien «eine gezielte Waffe der Gaddafi-Getreuen. Denn in der islamischen Welt wird die Frau für eine Vergewaltigung oft doppelt bestraft. Nebst der eigenen Demütigung wird sie von der Öffentlichkeit gemieden.» Daraus könnte man schliessen, solcherlei Kriegsgewalt sei islamtypisch und andernorts unüblich. Das ist leider nicht wahr.

Wikipedia weiss: «In Konfliktfällen wie Kriegen oder Bürgerkriegen oder bei so genannten ethnischen Säuberungen sind weltweit häufig massenweise und systematische Vergewaltigungen der Frauen von Kriegsgegnern zu konstatieren. Beispiele für solche Kriegsverbrechen von Männern sind Zwangsprostitution in Wehrmachtsbordellen, Lagerbordellen und japanischen Kriegsbordellen, die Vergewaltigungen von Nanking 1937 durch japanische Besatzungssoldaten während des Zweiten Weltkrieges, die Gewalttaten deutscher Soldaten in den eroberten Gebieten oder auch die zahlreichen Vergewaltigungen in den eroberten Ostgebieten und in Deutschland durch Angehörige der Roten Armee Ende des Zweiten Weltkrieges. Beispiele in jüngerer Zeit sind die Jugoslawienkriege, der zweite Kongokrieg oder der Konflikt in Darfur.»

In früheren Kriegen ging es sicher nicht gesitteter zu, da schon in Friedenszeiten Frauen explizit als minderwertig und per se als lasterhaft galten. Erst 1998 wurden Vergewaltigung und sexuelle Gewalt als Völkermordhandlungen definiert, 2001 wurde Vergewaltigung im Zusammenhang mit kriegerischen Aktionen erstmals als schwerer Verstoss gegen die Genfer Konventionen verurteilt und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft, 2008 definierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten als Straftatbestand. Davor mussten betroffene Frauen – sofern sie überlebten – so tun, als wäre nichts geschehen, sonst wären sie der Liederlichkeit oder gar der Sympathie mit dem Feind bezichtigt worden. Ein zäher Mantel des Schweigens lag und liegt auf diesem Unrecht. Tausende unserer Ahninnen gingen seelisch und körperlich versehrt aus Kriegen hervor. Kein Heldendenkmal preist je ihren Widerstand. Ihr Leiden war a priori unnütz, sie erscheinen in kaum einem Geschichtsbuch und zählen nicht für die Opferstatistiken.

Daran denke ich immer, wenn ich Kriegsberichte sehe. «Was ist mit den Frauen?», frage ich mich angesichts von Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen. Und deshalb kann ich meist auch Filme nicht ernst nehmen, die Kriegsepisoden historisch oder ethisch aufarbeiten. Wie sinnlos darin auch reihenweise Helden in Uniformen gemetzelt und zerfetzt werden, wie unauflöslich immer das ewige Kriegsdilemma «Töten oder getötet werden» dargestellt wird, und selbst wenn das enorme Leid für die unbeteiligte Zivilbevölkerung thematisiert wird: Die sexuelle Unterwerfung der gegnerischen Frauen bleibt allzu oft tabu.