Wenn Sie demnächst eine Reise tun, sollten Sie sich beizeiten auf den Weg machen. Wenn die Zeit zum Umsteigen knapp ist, nimmt man besser gleich den früheren Zug. Wer nämlich atemlos aufs Perron gerannt kommt und dort nur eine lange Reihe Erstklasswagen antrifft, sollte sofort resignieren, über die eigenen Füsse stolpern und der Länge nach auf den Asphalt klatschen. Schliesslich sitzen hinter den Scheiben in den ersten Waggons ErstklassfahrerInnen. Und die haben sich mit viel Geld Privilegien
Kategorie: P.S.-Kolumnen
Landleben
Die Bäckerin an der Westtangente wusste natürlich nicht, dass ich in Zukunft nicht mehr automatisch an ihrem Laden vorbeikommen würde, weil ich in Kürze aufs Land ziehen würde. Sonst hätte sie mich bestimmt mit ausgesuchter Höflichkeit bedient, damit ich bei künftigen Besuchen in Zürich extra den Weg zu ihrer Bäckerei unter die Füsse nehmen würde. So aber verlief der Abschied anders. Nachdem ich drei Baguettes bestellt und bezahlt hatte, fragte ich höflichst: «Und dürfte ich dann
Moralin
Um vor der Euro ins Kino zu flüchten, versorgte ich mich kürzlich in einem Coop Pronto mit Chips und Getränken. Die Kassierin hatte gerade eine engagierte Diskussion mit einem erwachsenen Kunden. Er wollte für eine Hand voll Schulbuben, die zuvor bei der Kassierin abgeblitzt waren und unterdessen draussen warteten, zwanzig Flaschen Bier erstehen. Sie: «Das ist nicht der Sinn des Gesetzes. Alkohol gibts erst ab 16.» Er: «Schon gut, es ist für mich selber.» Drei Minuten später ziehen die
Spätpubertät
Manchmal beneide ich andere Leute. Was mich besonders beeindruckt, sind Menschen, die ihrem Leben den einen Sinn, das eine Ziel, die eine Richtung zu geben vermögen. Schon als Kind verbrachten sie ihre Freizeit am liebsten mit Meerschweinchen, als Teenager führten sie anderer Leute Hunde spazieren, und jetzt sind sie Tierärztin.
Bei mir ist das anders. Alle paar Jahre muss ich wie unter Zwang wieder etwas Neues machen, irgendein altes Talent wieder ausgraben oder einen seit Jahren gehegten geheimen
Lasst mich durch!
Als ich noch jung und idealistisch war, wollte ich Seklehrerin werden. Da ich nicht geräteturnen konnte, blieb nur Fachlehrerin übrig. Statt eines sprachlichen oder naturwissenschaftlichen Sek-Profils wählte ich also zwei sprachliche Hauptfächer. Dass ich damit nicht wählbar sei, schien mir unproblematisch, wollte ich doch gar nicht Beamte werden. Stattdessen erwarb ich eine Zusatzqualifikation für das Fach Werken. Das Fach Zeichnen wollte ich als Nebenfach abschliessen – aber oha:
Tata-Bubu
Im Jemen beantragt zum ersten Mal ein Mädchen die Scheidung, weil es in der erzwungenen Ehe geschlagen und ausgebeutet wurde. Ehe ist zwar erst ab 15 Jahren erlaubt, aber niemand straft jene, die über 50% der erst 7- bis 9-Jährigen zur Heirat mit erwachsenen Männern zwingen. Und niemand aus der Familie hilft einem vergewaltigten Ehe-Mädchen. Ein nahezu wasserdichtes Tabu schützt die Täter und die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Das Kind Nojoud Muhammed Nasser bricht in einem
Busimess
Es sind ja schon Leute aus meiner Wohnung ausgezogen, weil sie mich und meine Entourage für Messies halten. Ich selber finde meinen Geisteszustand nicht gar so schlimm, immerhin leide ich manchmal auch unter meiner selbst verursachten Unordnung. Und schliesslich ist auch wieder eine Untermieterin eingezogen, und die hat bis jetzt nicht reklamiert. Allerdings haben wir ihr kürzlich einen Abfallsack geschenkt – damit sie Bekanntschaft schliesst mit der Institution Gebührensack und ihren Güsel
Physis
Kürzlich griff ich wieder einmal zur mathematischen Formelsammlung, Abteilung Physik. Sicher fällt Ihnen sofort auf, dass ich nicht Wikipedia konsultiert habe. Bei mir zu Hause stehen auch mehrere hundert Bücher herum, aber kein Fernseher, und ich würde lieber eine Stunde lang in einen Baumwipfel gucken als ein Computerspiel zu spielen. Die reinste Gegenwartsverweigerung, ich gebs ja zu. Trotz meiner jugendlichen vierzig Lenze bin ich also schon ewig gestrig. Was hätte ich unseren Nachkommen
Schule geben
Wenn Sie diese Zeilen lesen, wird das Gröbste bereits hinter mir liegen. Im Verlaufe dieser Woche werde ich acht Schulklassen zum ersten Mal begegnet sein. Vorläufig noch fahre ich Zug, entwerfe die besten Lektionen der Welt und studiere Schülerskizzen. Denn das Glück in Form eines grossen Pensums an Zeichen- und Werkunterricht wartet in Basel auf mich.
Also pendeln für ein halbes Jahr. «Uff», denken Sie jetzt, «pendeln!». Fragen Sie mich im Herbst wieder, aber vorläufig gefällt mir
Kein Erbarmen
Grosser Wirbel in den Medien um grundlos prügelnde Jugendliche. Schuldige sind schnell gefunden: gewaltbereite Ausländer. «Zum Glück» gibts auch Schweizer Täter. Man muss doch nachdenken und findet Erklärungen in Richtung Entgleisung von der friedfertigen Schweizer Kultur. Gewalt als Ventil für angestauten Frust, irgendwie legitim und entschuldbar – je nach Schwere der Umstände. So vermuten wir Brutalo-Games nur in verwahrlosten Kinderstuben, die abstumpfende Droge Tilidin wird als